Ein Drahtseilakt

■ Solidarnosc, die Regierung und die Streiks

Von Anfang an war es ein Drahtseilakt, auf den sich Regierung und Opposition am runden Tisch eingelassen hatten. Mit langsamen Schritten nur ging es vorwärts. Daß die Schrittgeschwindigkeit jetzt rasant zugenommen hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie unsicher sich beide, Regierung und Opposition, fortbewegen.

Die Regierung hat sich zu einem entscheidenden Zugeständnis durchgerungen: Solidarnosc wird selbst über seine Strukturen bestimmen, wird sofort und landesweit zugelassen werden. Über ihren Schatten ist sie auch bei der Bauerngewerkschaft gesprungen: 1980 war deren Zulassung ein noch größerer Konfliktpunkt als die Gründung von Solidarnosc selbst.

Damit aber sind beide Organisationen noch nicht gegründet. Bis das möglich ist, muß das Parlament noch eine Änderung des Gewerkschaftsgesetzes beschließen. Der Staatsrat muß jene Verordnung aufheben, die es untersagt, in einem Betrieb mehr als eine Gewerkschaft zu organisieren. Der Unmut, der sich in zahlreichen wilden Streiks im Lande entlädt, weist darauf hin, daß die Geduld der Bevölkerung am Ende ist. Je mehr sich die Verhandlungen in die Länge ziehen, desto mehr Zulauf erhalten jene Kräfte, die vom runden Tisch ausgeschlossen wurden. Und wenn Solidarnosc erst legal ist, wird man ihnen den Zugang kaum noch verwehren können. Der runde Tisch wird mehr denn je zu einem Drahtseilakt.

Klaus Bachmann