: Offene Schädel
■ Derek Jarmans Verfilmung von Benjamin Brittens 'War Requiem‘
Ich hatte wirklich nicht mehr damit gerechnet. Längst lehnte ich mich beruhigt in meinem Sessel zurück angesichts der kunstvollen Arrangements zu Brittens Musik, der fast katholischen Rituale, der schönen Männer in Uniform mit schlimmstenfalls lehmverschmierten Gesichtern, die mit Vorliebe traurige langsame Gesten machen. Ein Kunstfilm über den Krieg, dachte ich, einer der mit Bildern versucht, was Britten mit Tönen machte: Gesang, noch dazu frommer, gegen Gemetzel. Eine Antikriegszeremonie, die zwar nicht verschweigt, wie schwierig es ist, Bilder zu finden und wie schwer Jarman sich tat mit der Tatsache, daß es sich ja immerhin um eine Messe handelt, komponiert zur Einweihung von Coventry Cathedral. Kinder beerdigen einen verbrannten Teddybär, Tilda Swinton als Lazarettkrankenschwester mit Renaissance-Gesicht flicht sich Zöpfe und schreit, lang und stumm. Denn 'War Requiem‘ ist ein Stummfilm mit Musik.
Ein Offizier weint ohne Tränen, zwei andere bewerfen sich mit Schneebällen, dann töten sie einander. Blut im Schnee. Isaac wird auf dem Altar geopfert, ein Priester schlachtet ihn mit Rasierklinge und drumherum stehen feiste schrill geschminkte Bonzen mit Zigarren in den Gesichtern.
Wie gesagt, ich hatte wirklich nicht mehr damit gerechnet. Ein Crescendo in der Musik, immer schnellere Schritte, Dokumentaraufnahmen. Aber nicht die von den Kriegsberichterstattern, nicht die aus dem zweiten Weltkrieg in Schwarzweiß. Die registriere ich kaum noch, wir alle kennen sie auswendig. Es sind Aufnahmen von Amateurfilmern, in Farbe, ungerichtet. Aufnahmen von erschossenen, aber noch lebenden Soldaten. Offene Schädel. In diesem Moment, ein paar Minuten nur, läßt uns das ganze Kunstkino im Stich. Hätte Jarman ans Ende seines Crescendos nicht die vertrauten Luftaufnahmen von Hiroshima plaziert, ich würde wegen dieser einen Sequenz seinen Film vehement verteidigen. Trotz allen Kitsches.
chp
Derek Jarman: War Requiem, Großbritannien 1988, 92 Min., mit Tilda Swinton, Laurence Olivier.
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