: Barbies Hotel - unser Hotel
■ Gestern wurde bei den Berliner Filmfestspielen Marcel Ophüls‘ Barbie-Film „Hotel Terminus“ aufgeführt
Hotel „Terminus“ - das war der Sitz von Gestapochef Barbie in Lyon. Marcel Ophüls‘ Dokumentation, die in Berlin auf dem „Forum des jungen Films“ läuft, ist nicht nur eine Biographie, sondern ein Dokument der Nachbarschaft: Sie besteht aus Erzählungen der Leute, die mit Barbie zusammenkamen - als Mittäter, Mitwisser oder als Opfer. „Barbie“, schreibt Jochen Köhler über den Film, „das ist unsere Atmosphäre, das Messer im Kopf, das böse Zeichen an der Wand und der Geruch in unserem Hotel“.
Entscheidend ist, daß der Film nicht nur von Barbie handelt; von Barbie, der als Gestapochef von Lyon bis 1944 die Verfolgung und Ausschaltung der französischen Resistance leitete, für die Gefangennahme und Vernichtung französischer Juden sorgte; der sich im Nachkriegsdeutschland vor den Amerikanern versteckte und dann in ihren Geheimdienst übernommen wurde, nach Südamerika verschwand und als Gestapospezialist bei dortigen Militärdiktaturen, Waffenschmugglern und Drogenhändlern mitwirkte; der schließlich nach Frankreich ausgeliefert und in Lyon vor ein Gericht gestellt wurde.
Ophüls‘ Film ist aus den Erzählungen der Leute zusammengesetzt, die mit Barbie in Berührung kamen. Und aus dem, wie diese Leute aussehen, sich bewegen, was sie „für ein Bild abgeben„; wie sie und wo sie wohnen, denken, sprechen, weinen, sitzen, atmen, lächeln, wenn sie von Ophüls und seinen Rechercheuren an ihrer „Barbiestelle“ wiederberührt werden. Die wesentliche künstlerische Anstrengung des Filmes ist darauf gerichtet, daß aus den gefilmten Interviews, den Bildern und den Sätzen der Befragten viele, viele selbständige Geschichten entstehen, daß diese aber zusammenbleiben.
Keine dieser Geschichten illustriert nur die andere, Ophüls ordnet die Befragten nicht einander unter, die Reihenfolge scheint offen, die Türen des „Hotels“ bleiben nun unverschlossen: Wer hereinkam, darf unverletzt wieder hinaus, selbst die vielen zwielichtigen Gestalten, Barbies Partner, die „Kollegen“. Gleichzeitig aber erzählt Ophüls seine eigene Geschichte.
Sein Verdienst: Die Leute sind unter der Regie der Filmkunst nicht zu „Zeitzeugen“ verkommen - als führten sie ihr Leben nur in einer Zeit. Sie sind nicht „seriöse Quellen“ - als hätten sie kein Leben. Ophüls erzählt von der Verletzung und zeigt, wie er die Menschen respektiert; er entwickelt aus den Geschichten des Schmerzes kein bitteres, zynisches Menschenbild, sondern er ist über die „Faktenlage“ der Recherche hinaus zur Unantastbarkeit der Menschen gelangt. Zu einem beinahe heiteren Menschenbild, das Christen den „selbständigen Schöpfungsgedanken Gottes“ nennen, das hier aber das ganz diesseitige Postulat friedlicher Nachbarschaft erfüllt.
Ophüls‘ Film ist (wie es anders auch schon Shoah von Lanzmann war), eine Provokation für „oral history“ und „Geschichtsschreibung“, aber auch für den zynischen, oberflächlichen Alltagsumgang mit den „historischen Kenntnissen“. Wenn er seinen Personen, wie in einem Roman, die nötige Szene läßt, um ihre Individualität zu markieren, dürfen wir ruhig, wie im Leben, manches „nicht verstehen“. Auch die gelegentlichen Verständnisschwierigkeiten wegen der vielen Sprachen, in denen erzählt wird - Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch -, sind so gerechtfertigt und ebenfalls die vier Stunden Lebenszeit, die Ophüls zum Betrachten seines Filmes abverlangt.
Was im Geschichtsbuch als „Nebensache“ unbeachtet bleibt, wird hier als Dokument der Nachbarschaft gezeigt. Wer von Ophüls befragt wird, „verzögert“ die Barbie-Recherche, der Zuschauer muß sich Umleitungen unterwerfen, Geschwindigkeits - und Zeitenwechsel hinnehmen. Dabei verändert sich unversehens das Thema: „Barbie“, das ist nun nicht mehr nur eine Biographie, das ist unsere Atmosphäre, das Messer im Kopf, das böse Zeichen an der Wand und der Geruch in unserem Hotel, der rote Faden von Lyon 1944 bis zu Lyon 1987.
Das Hotel „Terminus“ war der Sitz der Gestapo in Lyon, die gleichnamige Filmerzählung handelt von der Vergangenheit in der Gegenwart - der vergangenen wie der nicht vergehenden. Also nicht im Sinne von Antifa oder Rache oder „Nazis raus“ (wohin denn, nach Bolivien?), nicht kriminalistisch, sondern zwei- und mehrdeutig, vielfältig.
Vergangenheit, oft lang zurückliegend, hinter den Epochen, unter den Namen. Da sind Heydrich, Barbie, de Gaulle, Jean Moulin; aber auch Regis Debray, Klarsfeld, Cohn-Bendit: eine ganz andere Generationsgruppe. Südamerikanische Diktatoren und ihre deutschen Geschäftsfreunde oder die LeiterInnen der französischen Resistance und die Spezialisten des französischen Fernsehens - andere, gemischte Welten, anders gemischte Zeiten.
Die zwei Vergangenheiten, wie sie sich im Ehepaar konventionell und unkonventionell verteilen; überhaupt die vielleicht unterschiedliche Ausbreitung der Vergangenheit bei Männern und Frauen. Die unterschiedlichen Lebensalter, wie sie Ophüls in unbeweglichen Körperruinen zeigt (in der eines ehemaligen US-Geheimdienstlers und der eines bolivianischen alten Bauern) oder nur im Vorbeigehen streift: die jungen Leute auf der Straße in Lyon oder Marburg, die „Passanten“ der Gegenwart. Altersunterschiede auch in Sequenzen, die Ophüls mit viel jüngeren Mitarbeitern zeigen. Oder Gegensatz zwischen der Büroausstattung eines Star-Verteidigers und der 'Liberation'-Redaktion in Lyon.
Es geht immer um Zeit, Zeitpunkte, Lebenszeit, historische Zeiten, ihre konventionelle Darstellung (Weihnachtsschmuck!, deutsche Volkslieder von den Wiener Sängerknaben!) und ihre Verarbeitung und Erneuerung in der Erinnerung.
Was zu sehen und zu hören ist, ist stellenweise sehr witzig. Das hängt mit dem Enthüllungsgenre zusammen. Haben wir in den letzten zehn Jahren nicht immer wieder Situationen beschrieben und zu sehen bekommen, in denen ein alter Wolf Kreide gefressen, ein Schwerverbrecher sich als Opfer dargestellt, ein Verantwortlicher nichts gehört und nichts gesehen haben will?
Es ist ja zum Lachen, wenn reihenweise und jahrzehntelang die gleichen Ausflüchte benutzt werden. Schon wer zur Ausflucht greift, wird lächerlich: Die Tarnkappen machen transparent wie ein Röntgenbild. Das Genre vereint seit 1945 geradezu obligatorische Motive und Topoi: Hotel Terminus. Weil Ophüls es schafft, daß wir zwei, drei Leuten gleichzeitig zu folgen vermögen, geschieht es immer wieder, daß einer eine Schutzbehauptung aufstellt, die ein anderer gleichzeitig widerlegt. Besonders komisch ist auch, welche Rolle anwesende oder sonstwie vorhandene Ehefrauen plötzlich für Männer spielen, die nicht mit der Wahrheit oder mit ihren Kenntnissen herausrücken wollen: Sie würden schon wollen, bloß sie - die Mutti im Off - sie läßt ihn doch nicht!
Die prinzipielle Heiterkeit ist auch in der Stimme und den Auftritten des Regisseurs selbst dokumentiert. Einmal geht er feixend, lachend wie ein Junge, einem SS-Offizier in dessen deutsches Haus hinterher, der vor ihm flüchtet wegen seiner Vergangenheit. Seiner Gegenwart zuliebe aber vor Kamera und Scheinwerfer - will er zugleich die „würdige Haltung“ des „No comment“ bewahren, die er aus Funk und Fernsehen kennt. Augen und Mund mit einem Aktenstück bedeckt, entschwebt er per Aufzug nach oben. Er läßt sich nicht mehr blicken, auch die Nachbarn verraten ihn nicht.
Also hebt Ophüls die Plastikfolie überm Junggemüse im Garten des Altnazis hoch. Stück für Stück lüftet er die Gemüsebeete, beugt sich runter und ruft lachend: „Sind Sie da? Sind Sie da?“ Bis eine Nachbarsfrau die Filmer anherrscht: „Das ist hier Privatgelände!“ Es ist doch sehr komisch und auch tröstlich: Heute verteidigen die überlebenden SS-Offiziere die Unantastbarkeit des Kopfsalats!
Das kleine Argumentationstheater angesichts der (aggressiv) abgewiesenen Scheinwerfer der Aufklärung ist ein Topos, den Ophüls auch mit einem Mitarbeiter vor der Kamera vorspielt . Eine Telefonszene, die, wie sie dabei erzählen, sich Hunderte Male abgespielt hat: Sobald der Name Barbie fällt, ist das Gespräch schnell beendet. Kleines witziges Theater in der großen realistischen, erbärmlichen Posse, die die abgehalfterten Schuldigen und die verquetschten Mitschuldigen spielen: die Unantastbarkeit der Person als letzter Rettungsversuch des Irrsinns und des Sadismus.
Der Film ist am Ende einer unbekannten Frau „aus der Nachbarschaft“ gewidmet, die 1944 bei der Deportation einer jüdischen Familie ungefragt ihre Wohnungstür öffnete und eines der Kinder mit einem schnellen Griff zu retten versuchte.
Jochen Köhler
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