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Lehnstuhlreisen: Geheime Berlin-Verführer

„Häufig das wahre Berlin-Erlebnis“ seien die Eckkneipen, befindet auch der „Geheime Berlin-Verführer“, läßt sich dadurch aber nicht im geringsten beirren. Nach „bestem Wissen, aber ohne Gewissen“ offeriert er einen bunten, hochgradig subjektiven, aber dennoch repräsentativen Querschnitt der Berliner Gastronomie. Dabei spielt es nicht die geringste Rolle, ob die jeweiligen Etablissements nun morgens, mittags oder mitternachts zu höchster Form auflaufen, ob ihre gelungensten Kreationen flüssiger, fester oder atmosphärischer Natur sind, die Wirte und Kellner freundlich oder fies, die Gäste solid oder perfid, die Räumlichkeiten obskur, obsolet oder optimal; und schon gar keine Rolle spielt es, ob das betreffende Objekt nun im Wald, auf dem Wasser oder eben am Zusammenfluß zweier Straßenzüge beheimatet ist.

Nur wenige Seiten trennen die große Küche a la Rockendorf („Essen wie Gott in Berlin“) von der bodenständigen Kreuzberger Exotik des Blauen Affen („Für miljöhresistente Futschi-Fans“). Die knappen Charakterisierungen der vorgestellten Kneipen sind eifrig um Esprit be müht, gleiten allerdings auch gern mal in Kalauer und Plattitüde ab („Nette Teufel und freche Engel“, Bunte Hölle), was ohne Umschweife dem Herausgeber zugeschrieben werden kann. Da findet sich hier ein leibhaftiger Haiku „Fische im Kochtopf/die verwehenden Träume/im Mond des Sommers“ (Sabu) - dort der Hinweis auf übersinnliche Wasserspiele: „Hoher Seegang - selbst bei Windstille. Am Abend schauen die Leuchttürme rein.“ (Sabine II, Havel -Stromkilometer 4).

Wertvolle Hinweise auf bestimmte Sehenswürdigkeiten - „Der schönste Kellner östlich von Tijuana“ (Patio) - wechseln mit wohlmeinenden Warnungen. So birgt das Lentz eine Gefahr der besonderen Art: „Aufgemerkt: hier treffen Sie ihre Ex-Freundin!“, während es in Frankies's Billard -Saloon eher dem Queue an den Kragen geht: „Tiefhängende Ventilatoren“.

Der Charakter vieler Lokale wird in genialer Einfachheit erfaßt: „Wehmütige Weinlaune im Sanierungsgebiet“ (Alt -Berliner Weinstuben, Wedding), „Gralsstätte des neudeutschen Italismus“ (Bar Centrale - Lo Sfizio), „virile Einzeltrinker“ (Schneecafe), „karibisch-selbstvergessene Blicke“ (Gary's Cocktailbar).

Besonderer Clou des dankenswerterweise mit einem Stadtplan versehenen, westen- und handtaschenfreundlichen Büchleins mit dem Format eines klein geratenen Bierdeckels ist jedoch der Ost-Berlin-Teil. Ausflüge in den weißen Fleck des Berliner Großstadtdschungels, die längst nicht mehr so öde, aber dennoch geheimnisumwitterte Topographie des realsozialistischen Nachbarplaneten, werden so zum kalkulierbaren Abenteuer. Der Osten hat inzwischen einiges mehr zu bieten als das Ganymed des armen B.B.

Wo sonst gibt es schon Kneipen, in denen der gemeinhin rechtlose Gast nicht nur selber grillen, sondern auch selber zapfen darf (Haus Stilbruch), wo „Cucina italiana an der Obergrenze der Möglichkeiten, die LPG-Ställe und Kolchose -Äcker zulassen“, geboten wird (Fioretto), und wo „erwartungsfrohe Wartekollektive“ vor „polierten Türen“ lauern (Palast der Republik)?

Matti Lieske

Thomas Platt (Hrsg.): Der geheime Berlin-Verführer, Berlin 1988, FAB-Verlag. 227 Lokalitäten auf 63 Seiten.

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