Nimmermüde die Sünden beschrieben

Der Politologe Ossip K. Flechtheim feiert heute seinen 40. Geburtstag / Schon vor 40 Jahren wies er auf die Gefahren der technischen und naturwissenschaftlichen Dynamik hin  ■  Von Rolf Kreibich

Es ist höchste Zeit, auf jenen nun 80jährigen Mann zu hören, der schon vor über vierzig Jahren die Bedeutung der Zukunft nicht nur für die Wissenschaft, sondern vor allem auch für die alltägliche Gestaltung unseres Lebens erkannte:

„Seitdem ich für mich damals die Zukunft entdeckt habe, habe ich mich immer wieder daran erinnert, daß eine der Dynamik von Technik und Naturwissenschaft ausgelieferte Menschheit es sich nur bei Strafe der Verkrüppelung oder gar des Unterganges leisten kann, blind in die Zukunft hineinzutorkeln.„

Ossip K. Flechtheim ist nie müde geworden, auf die „Todsünden“ der Menschheit oder besser, „die großen Herausforderungen ('challenges‘) an unsere Weltgeschichte“ hinzuweisen. Ohne deren Bewältigung, so sein Credo, haben wir kaum eine Chance des Überlebens:

„Rüstungswettlauf und Krieg; Bevölkerungsexplosion und Hunger, insbesondere in der Dritten Welt; Umweltbedrohung und -zerstörung in allen vier Welten; Wirtschaftskrise im Westen und Überplanung im Osten; Demokratiedefizit und Repression; Kulturkrise; Krise der Familie und Identitätsverlust des Individuums.„

Obwohl sich in den letzten Jahrzehnten die Rahmenbedigungen unserer Zivilisation dramatisch gewandelt haben und die globalen Probleme und Katastrophen für alle konkreter sichtbar wurden, werden die politischen Lösungsansätze eher kurzatmiger, und die Strategien und Instrumente beschränken sich immer noch mehr auf Dammbau, Reparatur und vordergründiges Krisenmanagement. Global 2000 und Global Future, die beiden Berichte an den Präsidenten der USA, und der Brandt-bericht der Nord-Süd-Kommission haben Anfang dieses Jahrzehnts noch einmal die Lage unserer Welt in nüchternen Konturen gezeichnet. Danach haben sich mit der rasanten Entfaltung des Abendländischen Technologie -Industrialismus-Wettlaufs die von Flechtheim genannten Herausforderungen weiter zugespitzt. Auch wenn wir die ersten Abrüstungsvereinbarungen als Erleichterung empfinden, so kann angesichts der gewaltigen Potentiale an A-, B- und C -Waffen noch lange keine Entwarnung im Rüstungssektor gegeben werden. Nach wie vor sitzen wir auf einem riesigen militärtechnologischen Pulverfaß, das sich aus ganz unterschiedlichen technischen, sozialen oder ökonomischen Gründen entzünden kann. Die in den letzten Wochen bekanntgewordenen makabren Waffengeschäfte skrupelloser Geschäftemacher, gerade auch „in diesem unserem Lande“, und die Unfähigkeit der Politik, hier Einhalt zu gebieten, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Noch bedrohlicher sind die täglich und überall vor allem von den Industrieländern ausgehenden irreversiblen Zerstörungen unserer natürlichen Lebensumwelten.

Wie dringend die von Ossip K. Flechtheim geforderten neuen Zukunftsperspektiven sind, die über Legislaturperioden von politischen Administrationen hinwegreichen, ergibt sich allein daraus, daß die meisten politischen, ökonomischen und sozialen Entscheidungen einen Zukunftshorizont von mindestens 50 Jahren haben: Straßenbau, Fernwärmetrassen, Abwassersysteme, Kanäle, Schulen, Krankenhäuser, Industrieunternehmen usw. Kernkraftwerke, Schnelle Brüter, Wiederaufbereitungsanlagen, chemische Lagerstätten, gentechnisch erzeugte neue Pflanzen- und Tierarten oder Computer der fünften Generation schaffen noch Zukunft in mehr als hundert oder tausend Jahren. Viele technisch -ökonomische Weichenstellungen und politische Entscheidungen engen die Zukunft sogar ganz prinzipiell ein, wenn nämlich ihre Folgen nicht zu beseitigen sind. Ausgestorbene Pflanzen - und Tierarten können nicht zurückgeholt, Ökosysteme nicht wieder geschaffen, verseuchte Landschaften nicht einfach wiederhergestellt, gentechnisch manipulierte freigesetzte Bakterien nicht wieder eingefangen werden.

Wir brauchen also ganz im Sinne von Flechtheim eine neue politische Kultur, in der die Betroffenen ganz mittelbar an der Zukunftsgestaltung beteiligt sind. Wir brauchen aber auch die Unterstützung durch eine wissenschaftliche Zukunftsforschung, die in einem neuen Fortschrittsverständnis und einem veränderten Begriff von Lebensqualität verpflichtet ist: Abkehr von der eindimensionalen ökonomisch-militärischen Verwertung von Wissenschaft und Technologie, Abkehr von der Ausrichtung am Stärker-Größer-Schneller ökonomischer Macht und politischer Überlegenheit. Fortschritt sollte sich vielmehr am freiheitlichen und solidarischen Zusammenleben mit anderen Menschen und Völkern und ihrer Selbstbestimmung orientieren. Fortschritt und Lebensqualität sollten sich nicht gegen die Natur und aus der Überrumpelung der Evolution bestimmen, sondern an der sozialen Einbindung in sie. Ich vermute, daß wir Flechtheims Wirken am besten gerecht werden, wenn wir in diesem Sinne für humane und ökologische Zukünfte streiten.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin