„Konkreter Tatnachweis“ für Massenmörder

Beim zweiten Majdanek-Prozeß in der Bundesrepublik müssen ZeugInnen aufs neue in allen Details über Fakten aussagen, die längst gerichtsbekannt sind / Von 1.500 SS-BewacherInnen in Majdanek wurden in der BRD fünfzehn vor Gericht gestellt  ■  Von Bettina Markmeyer

Bielefeld (taz) - Wenn die Verhandlung zu Ende ist, packt er seine Sachen, verläßt in aller Ruhe das Gerichtsgebäude und setzt sich auf die Bank im Wartehäuschen der Straßenbahn. Ein alter Mann wie viele. „Jetzt fährt er wieder nach Lübbecke, dieser Höcker. Ein freier Mann ist er!“ empört sich ein hochgewachsener Grauhaariger. Er gehört zu denen, die den zweiten und wohl letzten Majdanek-Prozeß vor einem BRD-Gericht verfolgen.

Karl-Friedrich Höcker (77), von April 1943 bis Mai 1944 Adjutant im Konzentrationslager Majdanek (Lublin, Polen) und danach in Auschwitz, verbirgt schon lange nicht mehr sein Gesicht, wenn er den Gerichtssaal verläßt. Der Presserummel zur Eröffnung des Prozesses, in dem er wegen Beihilfe zum Mord und Meineid vor Gericht steht, ist Geschichte.

Mal fünf, mal acht, kaum mehr als zehn Leute sind es, die jeden Montag und Dienstag auf den Zuschauerbänken im Saal 1 des Bielefelder Landgerichts Platz nehmen, um für einige Stunden in die unwirkliche Atmosphäre dieses Prozesses einzutauchen. Gelegentlich waren Schulklassen da; seit die Vernehmung der polnischen Zeugen beendet ist, bleiben die Bänke wieder leer. Sieben Monate dauert dieser Prozeß nun.

Der Saal 1 ist nur durch zwei Gänge mit dem Landgericht verbunden. Als freistehender, fensterloser Betonblock wurde er in einen Innenhof hineingebaut. In diesem künstlichen und kunstlichterhellten Raum begegnen die Überlebenden von Majdanek ihren grauenvollen Erinnerungen ein weiteres Mal. Vom Zeugenstuhl aus beschreibt Henryka O. aus Warschau dem Gericht unter Tränen, aber ohne zu stocken, wie sie an einem Tag im Winter 1943/44 „kleine Kinder“ sah, „die vergast worden waren und von Häftlingen aus dem Bad herausgetragen und auf die Erde gelegt wurden“. Und sie sah einen Wagen neben dem „Bad“ stehen, „auf den wurden die Kinder von anderen Häftlingen hinaufgeworfen - wie Kohlköpfe“.

Henryka O. kam nach Gestapo-Haft im September 1943 ins Lager und meldete sich im April 1944 für einen Transport ins Frauen-KZ Ravensbrück, um Majdanek zu entkommen. Sie mußte im Magazin des Lagers arbeiten, wo das ZyklonB in 1,5-Kilo -Dosen aufbewahrt wurde, und auf Befehl gemeinsam mit anderen Frauen die Gaskammer beliefern, die sich mit dem Bad in derselben Baracke befand. „Täglich lagen Leichen hinter dem Bad“, sagt Henryka O. vor dem Bielefelder Gericht. „Dort stand ein Schuppen, und da lagen immer sehr viele Leichen.“ Während der ganzen Zeit, die Henryka O. in Majdanek verbringen mußte, tat Höcker seinen Dienst als Adjutant in der Kommandantur.

Danuta C., eine Schriftstellerin aus Warschau, bricht zusammen, als Richter Woiwode sie nach der sogenannten Kinderaktion fragt. „Ich habe diese Frage gefürchtet. Ich wollte sie umgehen“, sagt sie. Zwei Bielefelderinnen, die freiwillig die Betreuung der polnischen ZeugInnen übernommen haben, kümmern sich um sie. Erst am nächsten Tag ist Danuta C. in der Lage, dem Gericht zu schildern, wie SS-Männer jüdischen Frauen ihre Kinder wegrissen, sie auf Lkws warfen und in die Gaskammer brachten. Auch das geschah, während Höcker Adjutant in Majdanek war.

Andrzej Stanislawski, ein 65jähriger Journalist aus Gdansk, der ein Buch über Majdanek veröffentlicht hat, beschreibt „den schrecklichsten Tag im Lager“, den 3.November 1943, an dem die von den Nazis zynisch benannte „Aktion Erntefest“ durchgeführt wurde. Unter den Klängen lauter Tanzmusik aus den Lagerlautsprechern erschossen SS- und aus der Umgebung von Lublin herangefahrene SD- und Polizeikräfte an diesem Tag von früh bis abends 18.000 Juden: Kinder, Frauen und Männer, vor allem aus Polen und der Sowjetunion. Andrzej Stanislawski: „In den nächsten Tagen begann das Verbrennen. Das Krematorium arbeitete Tag und Nacht.“ Da dies jedoch nicht reichte, seien die Leichen auch unter freiem Himmel verbrannt worden. „Viele Tage lang lebten wir im Lager im Dunst dieses Rauchs.“

Anhand eines Dokuments will die Staatsanwaltschaft im Bielefelder Prozeß nachweisen, daß Höcker am 3.11.1943 im Lager war. Als Zeuge im Düsseldorfer Majdanek-Prozeß hatte der ehemalige SS-Obersturmführer dies unter Eid bestritten und behauptet, er sei nach einer Flecktyphuserkrankung auf Genesungsurlaub gewesen.

„Während ich meine Aussage machte“, sagt Andrzej Stanislawski nach der Verhandlung, „hielt ich häufig die Augen geschlossen und ging an die Orte im Lager zurück. Ich war wieder im Lager.“ Viele ZeugInnen in NS-Prozessen berichten davon, daß sie im Gerichtssaal durch die Erinnerung das Grauen und ihre Ängste erneut erleiden. Obwohl dieses Phänomen bekannt ist und alle polnischen ZeugInnen bereits im Düsseldorfer Majdanek-Verfahren ausgesagt haben, müssen sie über zehn Jahre später erneut nicht nur schildern, was sie gesehen haben, sondern auch Fakten liefern, die spätestens seit Düsseldorf jedem deutschen Gericht zugänglich sind.

Wie war das Lager aufgebaut, wo stand das Krematorium, wo die Gaskammer? Eine für alle ZeugInnen furchtbar anstrengende und quälende Abfragerei. Und was soll damit bewiesen werden? Nicht nur, daß die Nazis in Majdanek Hunderttausende von Menschen ermordet haben, sondern auch, daß sie dies mit Gas in einem Gebäude taten? Das ist lange bekannt, reicht aber in der BRD zur Verurteilung des zweithöchsten Mannes in diesem deutschen KZ nicht aus. Auch bei NS-Massenverbrechen verlangt die hiesige Justiz den „konkreten Tatnachweis“ in jedem einzelnen Fall.

Von den ehemaligen SS-Leuten erinnerte sich in Bielefeld kaum eine Handvoll an Selektionen, Vergasungen und andere „Tötungshandlungen“ im Lager. Alle anderen litten unter den für die TäterInnen typischen selektiven Erinnerungsschwächen. Der Angeklagte Höcker sagt zur Sache nicht aus. Ihm muß nachgewiesen werden, daß mit dem von ihm beschafften ZyklonB anschließend Menschen vergast wurden. Die Überlebenden werden nach der Größe der Gaskammer gefragt. 1.500 SS-BewacherInnen haben in Majdanek „Dienst“ getan. Gerade 15 wurden in der BRD vor Gericht gestellt. 30 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft die ersten, der vermutlich letzte mehr als 40 Jahre danach. Solange der „konkrete Tatnachweis“ nicht geführt ist, ist er ein freier Mann.