: Immer wieder derselbe Film
■ Martin Scorsese über John Cassavetes
John Cassavetes war mein Mentor. Ich hatte ihn durch einen gemeinsamen Freund kennengelernt, Jay Cox, vom 'Time Magazine‘. 1969 habe ich ihm meinen ersten Film gezeigt, Who's That Knocking at my Door, der ihm sehr gefallen hat. Er hat mich ermutigt. 1971 bin ich für Schneidearbeiten nach Kalifornien gegangen, und John war eine große Hilfe für mich: Ich habe bei ihm zu Hause gewohnt, mit seinen Kindern gespielt, er hat mir seine Freunde vorgestellt usw. Neun Monate später bin ich nach Arkansas gegangen, um für Roger Corman Boxcar Bertha zu machen. Nach meiner Rückkehr habe ich John gleich besucht, um ihm den Rohschnitt des Films zu zeigen, denn wenn es jemanden gab, dem ich meine Arbeit zeigen wollte, dann war das John. Er lud mich in sein Büro ein, wir waren allein, er umarmte mich und sagte: „Marty, du hast ein Jahr deines Lebens nur Scheiße gebaut!“ Ich war natürlich bestürzt. „Es ist ein netter kleiner Film“, sagte er weiter, „nicht schlecht, aber nicht die Art Sachen, die du am besten kannst.“ Da habe ich meine große Rede über Autorenkino, B-Pictures, Don Siegel usw. gehalten. Er meinte: „Du kannst mehr als B-Pictures. Du bist jemand sehr Besonderes. Du hast was zu sagen. Hast du nicht irgendein Drehbuch in der Schublade, das du verfilmen könntest?“ Ich habe geantwortet, daß ich tatsächlich seit vier Jahren an einem Skript arbeitete, an dem ich aber noch polieren müsse... John hat mich überzeugt, es allen Leuten zu geben, die er kannte und die ich kannte. John Taplin hat es schließlich produziert. Ein Jahr lang, nach den Arbeiten zu Boxcar Bertha, drehte ich an Mean Streets, Tag für Tag. Ich konnte dieselbe Mannschaft benutzen, mit der ich auch bei Corman gearbeitet hatte - Techniker, die an „kommerzielle Filme“ gewöhnt waren, die ihr Metier kennen und schnell und billig arbeiten - um den Film zu machen, von dem John gesagt hatte, daß ich ihn machen mußte...
Man sieht also, was für eine wichtige Rolle John Cassavetes in meinem Leben gespielt hat. 1960 hatte ich als Filmstudent Citizen Kane gesehen, der mich eine neue Art gelehrt hat, Filme zu sehen. Mein zweiter Schock war Shadows. Dann habe ich natürlich auch die Filme von Truffaut, Godard, Chabrol, Antonioni entdeckt, aber Cassavetes blieb für mich immer ganz an der Spitze. In erster Linie, weil er Amerikaner ist. Aber auch weil sein Werk zeigt, wie Kraft und Gefühl alle materiellen Schwierigkeiten beiseite räumen können, die man beim Filmemachen hat. Die meisten Leute beschweren sich, schwätzen. John dagegen wartete nie, bis die Bedingungen ideal waren. Er drehte seinen Film.
Was mich an Shadows frappiert hatte, war der Eindruck von Wirklichkeit, den die Schauspieler erweckten. Orson -Welles-Filme kann ich zwanzig Mal wiedersehen. Cassavetes -Filme kann ich immer nur einmal sehen, weil ich weiß. Sie berühren mich auf einer Gefühlsebene, psychologisch. Für mich stellen sie so etwas dar wie die Wahrheit, Präsenz, Intimität des Lebens selbst: So möchte ich das Leben im Kino auch einfangen können.
Wir sind Freunde geblieben. Als ich in Hollywood lebte, sah ich ihn sehr oft. Er besuchte mich im Schneideraum, mit Gena Rowlands und Ben Gazzara, und sie sind stundenlang geblieben, um über den Film zu diskutieren. Ich hatte unheimlich viel Arbeit, und sie gingen nicht weg!
Wir kommen beide aus Mittelmeerländern, und das hat eine Rolle gespielt in unserer Freundschaft. Er besuchte meine Mutter. Die kochte, und die Mahlzeiten waren immer ziemlich laut! Das war genau der Lebensstil, in dem er selbst aufgewachsen war. Er war der unabhängige amerikanische Regisseur. Der größte, der stärkste. Seine finanzielle Unabhängigkeit, die er sich sicherte, indem er seine Schauspielerhonorare, sein persönliches Geld in seine Filme investierte, garantierte ihm künstlerische Freiheit. Und seine Arbeit ist anerkannt, da kann man sagen, was man will. In Italien und Frankreich sowieso, aber auch in den USA, wo seine Filme für Oscars nominiert worden sind (für seine Regie, Gena Rowlands Spiel...). Nur beim Verleih hatte er wirkliche Probleme: Das ist ein schwieriges Geschäft. Aber er ist ein wahrer Künstler. Da er unabhängig war, konnte er denselben Film immer wieder machen, was in Hollywood praktisch unmöglich ist (es sei denn, man hat viel Geld). Interview: Berenice Reynaud;
Quelle: 'Cahiers du Cinema 417‘
März 198
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