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DIE WIRKLICHKEIT DES FREMDEN

■ Lotte Jacobis Reise nach Rußland 1932/33

Sechsundfünfzig Jahre zurück, über siebentausend Kilometer von hier entfernt - eine schwer vorstellbare Distanz. Fotografien aus Moskau, aber auch aus den orientalischen Republiken der Sowjetunion, Tadschikistan und Usbekistan, aus den Städten Taschkent, Samarkand, Buchara und Stalinabad (seit 1961 wieder Djuschambe beziehungsweise Dusanbe genannt): Doch trotz des Unvermögens einer historischen und geographischen Einordnung, trotz aller wilden und exotischen Fremdheit, nimmt zuerst die Selbstverständlichkeit der Bilder von Lotte Jacobi gefangen. Der kirgisische Reiter, der sich vom Pferd zu einem Wasserverkäufer niederbeugt, um zu trinken, und usbekische Händler, die in Turbanen und gestreiften Gewändern im Kreis um ihre gefüllten Säcke stehen und sitzen - sie sind alltägliche Wirklichkeit, keine folkloristische Komposition, keine märchenhafte Stilisierung. Arbeiterinnen in einer Seidenfabrik, lesende Mädchen, Erwachsene beim Mathematikunterricht oder der Bau eines Staudammes dokumentieren den Aufbau des Sozialismus ohne Pathos. Die Bilder erzählen ohne heroische Monumentalisierung von neuen Errungenschaften - Schulen, Elektrizität - und halten ohne sensationslüsternen Voyeurismus gesellschaftliche Umbrüche fest: entschleierte islamische Frauen, die aus dem abgegrenzten Bezirk des Hauses gekommen sind und in Fabriken arbeiten.

Wenn Lotte Jacobi eine alte Kasak-Kirgisin oder einen usbekischen Lehrer porträtierte, dann scheint sie mit ihnen einen Grad der Vertrautheit und Verständigung erreicht zu haben, der das Selbstbewußtsein der Fotografierten weckte, ohne sie zu starren Posen zu verführen. So lassen die noch heute wirkende starke Präsenz der Fotografierten und die Authentizität der Bilder ihren außergewöhnlichen dokumentarischen Wert zuerst vergessen.

Eilsabeth Moortgart und Marion Beckers, die die heute 92jährige Lotte Jacobi in New Hampshire in den USA besucht haben, beschreiben in ihrem Einleitungsessay des Foto -Taschenbuchs Lotte Jacobi. Rußland 1932/33 die angespannte historische Situation, in der eine solche ohnehin abenteuerliche Reise für eine deutsche Fotografin zu einer Pioniertat wurde. Die revolutionäre Sowjetunion war zwar Reiseziel vieler westlicher Intellektueller und Schriftsteller gewesen - unter ihnen auch Egon Erwin Kisch, befreundet mit Lotte Jacobi -, aber nur weniger Fotografen. Die beiden Frauen Lotte Jacobi und die amerikanische Industriefotografin Margaret Bourke White waren überhaupt die einzigen, die in der Sowjetunion Anfang der dreißiger Jahre eine offizielle Erlaubnis zum Fotografieren beantragten. In der Sowjetunion wurde die Fotografie zwar als Mittel der visuellen Alphabetisierung gefördert, erfuhr aber Anfang der dreißiger Jahre formale und inhaltliche Einschränkungen, die sie auf die Illustration des sozialistischen Aufbaus festlegten.

Lotte Jacobi, die in der vierten Generation ihrer jüdischen Familie als Fotografin arbeitete, hatte in den zwanziger Jahren die Ebene der alltäglichen Auftragsarbeit im Atelier ihres Vaters verlassen und Schriftsteller, Schauspieler, Tänzer porträtiert. Mochte auch in dieser Boheme ihr linkes Engagement und ihr Interesse für die Entwicklung in der Sowjetunion nicht ungewöhnlich sein, so war es doch der Sprung von den an Illustrierte zu verkaufenden Prominentenporträts zu der selbständigen Unternehmung einer mehrmonatigen Rußland-Reise. Realisieren konnte sie ihre Pläne erst nach einer Ernst-Thälmann-Porträt-Serie, mit der sie - gerade noch rechtzeitig - die Unterstützung der Kommunistischen Partei gewann. Denn die politische Entwicklung des Faschismus in Deutschland und des Stalinismus in der Sowjetunion hätte die Reise zu einem späteren Zeitpunkt als 1932/33 nicht mehr zugelassen.

Verhindert wurde schon die Veröffentlichung des Bilder: als die Fotografin zurückkehrte, wurde das Atelier Jacobi als jüdisches Geschäft geschlossen. 1935 emigrierte sie in die USA, richtete in New York ein Studio ein. Aber trotz ihrer Erfolge als Fotografin und ihrem Engagement für fotohistorische Ausstellungen blieben die Rußland-Bilder bis auf wenige Ausnahmen unbekannt und werden jetzt im „Verborgenen Museum“ das erste Mal ausgestellt. Die Abzüge stellte der Nishen-Verlag zur Verfügung, der sie für sein Buch von den Originalnegativen im Archiv der Universität New Hampshire machen ließ.

Von Moskau aus wurde durch die Vermittlung von Egon Erwin Kisch für Lotte Jacobi überraschend die Weiterreise in den Orient möglich. Die Reise in eine Region, die von jeher von vielen Völkern, Kulturen und Religionen geprägt war, in der die junge Sowjetmacht mit islamischen Traditionen und schwer zu ergreifenden, mächtigen Banden zu kämpfen hatte, die für Konflikte zwischen Zentralismus und Autonomiebestrebungen geradezu vorprogrammiert schien, war eine große Herausforderung. Eine Kette von Traktoren vor dem Palast, den der letzte Emir von Buchara sich 1914 erbauen ließ: das gleichzeitige Nebeneinander islamischer Prachtentfaltung und der über Tausende von Kilometern unwegsamer Straßen herbeigeschafften technischen Produktionsmittel, die hier erstmals die menschliche Arbeitskraft unterstützten, ist in einem Bild festgehalten. Probleme zwischen islamischem Patriarchat und revolutionärer Emanzipation sind oft in die alltäglichen Szenen eingeschrieben, allerdings meist nicht ohne Hilfe zu entziffern. So sieht man über einer Gruppe von beieinander sitzenden Männern im Klub der Baumwollkolchose ein Transparent hängen. Übersetzung: „Arbeiterfrauen und Kolchosbäuerinnen, seht zu, daß Ihr Eure Kinder zur Schule schickt und sie regelmäßig am Unterricht teilnehmen, damit auch ihre Erziehung gesichert sei.“ Doch der Klub scheint weder für Frauen noch für Kinder ein Ort. Auf anderen Bildern aber findet man sie: in der Schule, bei der Baumwollernte, auf dem Markt. Einmal zeigt Jacobi einen mit Hintergrundprospekten und Stativ arbeitenden Basarfotografen, der einer verschleierten Frau den Rücken zukehrt, als käme sie, die traditionell den Blicken Entzogene, auch nicht als im Bild zu Zeigende in Betracht.

Auf die Spur gebracht, entdeckt man immer mehr Indizien einer Umbruchsituation in den festgehaltenen Momenten. Jacobis Bilder werten und erklären nicht, und so ist ihre Ergänzung durch die Texte Kischs im Buch des Nishen-Verlages sehr sinnvoll. Er kontrastiert den Bau des Staudammes in der Nähe von Stalinabad zwecks Erzeugung von Elektrizität mit einer Theateraufführung, die mangels Strom zum Hörspiel im Finstern wurde. Er erzählt, daß es die Schulen für die kleinen Mädchen erst seit zwei Jahren gab. Er kämpft ironisch mit sich selbst darum, die Schönheit der mittelalterlichen und zerfallenen Moscheen als noch immer die Kräfte des Volkes verschlingenden Mahnmale despotischer Macht zu sehen. Seine sympathische, aber nichts verklärende Teilnahme an der Entwicklung des Sozialismus findet sich in der Perspektive der Fotografin wieder.

Katrin Bettina Müller

Ausstellung: Lotte Jacobi. Fotografien einer Reise durch die Sowjetunion 1932/33. Bis zum 30. April im „Verborgenen Museum“, Schlüterstraße 70, 1-12, Do/Fr 15-19 Uhr, Sa/So 12 -16 Uhr.

Vorträge: 10. März, 19 Uhr: Brigitte Heuer „Chudzum“, Sturmangriff auf den Schleier. Die Frauenbefreiung in den Republiken des sowjetischen Orients. 17. März, 19 Uhr: Kathrin Daum „Der unvoreingenommene Blick“. Zum fotografischen Werk von Lotte Jacobi.

Buch: Lotte Jacobi. Rußland 1932/33, Berlin 1988, Nishen Verlag, 24 Mark.

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