piwik no script img

Tüte gegen Nazi-Kassette

■ Plastiktüte mit antifaschistischem Inhalt im Stadthelden gefunden / Rolands Rückenmark punktiert, Nazi-Kassette entfernt, Knieschäden behoben

Wieder einmal mußte der Roland operiert werden. Sein fast schon notorischer Knieschaden war wieder ausgebrochen, seit ein Trunkenbold ihm im letzten Herbst die Wehrstachel gekappt hatte.

Bei dieser Gelegenheit wurde auch sein Rückenmark punktiert, um ihn von einer Last zu befreien, die wie Blei auf seinem steinernen Gewissen lastete: eine Kiste voller NS -Dokumente, die zu Füh

rers Zeiten in den wehrlosen Helden eingemauert worden waren.

Die PassantInnen zeigten trotz Regenwetters reges Interesse an den Restaurierungsarbeiten, mutmaßten allerdings allerhand wüstes Zeug, was dem Stadthelden jetzt wieder Gutes getan werden sollte: „Die wollen dem im Bauch rumwühlen. Die bringen den auf Vordermann. Der Mann rostet von innen und kricht ein neues Stahlkorsett. Der soll schon wieder neu angestrichen werden.“ Eine Passantin vermutete fast richtig: „Die suchen einen Brief von Hitler.“

Die Kassette mit den NS-Dokumenten war schnell gefunden. Schon hinter dem zweiten Stein lag sie, stählern und holzbeschlagen. Aber das Innenleben des Roland barg noch eine Überraschung: eine Plastiktüte mit Dokumenten ganz anderer Art.

Als 1984 der Kopf des Helden, an dem der Zahn der Zeit arg genagt hatte, ausgewechselt wurde, hatten die Bauarbeiter bei dem Blick ins Innere des steinernen Mannes die Kassette schon gefunden. Aber weil es ihnen nicht erlaubt war, sie eigenmächtig zu entfernen, hatten sie ein Gegendokument beigelegt: eine 1984er Karstadt-Plastiktüte mit zwei Tageszeitungen darin und einer zweiseitigen Erklärung. Auf ihr wurde der Schrecken des Naziregimes gedacht, den sechs Millionen jüdischen Opfern und den vielen religiös und politisch Verfolgten.

Der Leiter des Staatsarchivs, Dr. Müller, zeigte sich angenehm überrascht von diesem Fund: „Es war offensichtlich eine zweite Grundsteinlegung und außerdem ein politischer Kommentar der vier Bauarbeiter, die unterzeichnet haben.“ Das geht zweifelsfrei hervor aus dem letzten Satz des beigelegten Schreibens: „Wir

schreiben diese Zeilen, damit diejenigen, die die Kasette einmal finden sollten, dessen Inhalt besser einschätzen können.“

Auch die angefeindete Kassette enthielt Beigaben, die den Historiker entzücken. Denn neben den obskuren Urkunden und Dokumenten barg sie auch eine Photoserie mit Bildern der 38er Restaurierung, die es bislang nur als Zeitungsabzug gab. Außerdem enthielt sie die Gedenk

münze zur Jahrhundertwen den-Aufmöbelung des Ritters. Das alles in hübschem Pergament verpackt, mit Schellack versiegelt, und in einem „ausgezeichneten Zustand“.

Was mit der Plastiktüte geschieht, ist nicht geklärt, aber sicher ist, daß die Dokumente der Bauarbeiter zusammen mit den NS-Dokumenten archiviert werden sollen. Und das ist gut so.

FWG

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen