: Weißes Schweigen
■ „Eisenerde - Kupferhimmel“ Der erste Film von Zülfü Livaneli
Winter im ostanatolischen Dorf - das ist das weiße Schweigen über geduckten, ockerfarbigen Steinhäuschen, ein Schweigen, das alles Lebendige einhüllt und langsam und leise zu ersticken droht. Der Winter spielt eine Hauptrolle. Die Zuschauer geraten in den Sog der leuchtendweißen Glitzerlandschaften, und es könnte ihnen ergehen wie denen, die ungeschützt zu lange in den Schnee starren. Vor das Weiß schieben sich Bilder, Gesichte, Visionen vielleicht, bis der Schnee blind macht. Der Blick klammert sich an die kahlen Bäume, die Tiere, die Feuerchen; vor der Folie des Schnees wirken die dunklen Menschen kleiner und größer zugleich.
Die Bauern des Dorfes haben Angst, gepfändet zu werden. Vor dem Boten des Adil Effendi haben sie sich noch verstecken können, doch wird er selbst wiederkommen und ihnen alles nehmen. Man wird ihn niemals sehen, wird nur zum Zeugen ihrer Furcht. Der Bürgermeister rät ihnen, ihre Habseligkeiten zu verbergen, aber als die letzte Ziege versteckt ist, beherrscht die Furcht sie mehr denn je. Nur einer, Tashbash, hat keine Angst, verkriecht sich nicht, beschimpft die anderen: „Jagt um Himmels willen die Angst aus euren Herzen, werdet wieder Menschen!“ Livanelis Film findet Bilder dafür, wie die Furcht die Menschen niederdrückt und sie stumm macht, wie aber in kleinen Gesten auch die Abwehr der Angst entsteht. Er zeigt die Kinder, die sich heimlich Streichhölzer besorgt haben - nie soll das Feuer verlöschen, denn in den Flammen sehen sie Pferde, Füchse, Zauberwesen. Er begleitet die alte Meryemce, wie sie ihr Kalb versteckt, das sie liebt - mit niemandem im Dorf spricht sie, nur am Ende wendet sie sich an Tashbash, den Heiligen wider Willen.
Tashbash entzieht sich Bürgermeister und Gläubigern, also kann er Wunder vollbringen. Er will sich auch dem Dorf verweigern, aber man zwingt ihn, Kranken die Hand aufzulegen, sieht Lichtbäume auf seinem Dach, zapft seine größere Kraft an, um die Schwächeren zu stärken. Keine Intrige des Bürgermeisters kann diese magisch-wundersame Macht mehr brechen, und Tashbash selbst muß sich fügen: „Was muß ein Mensch tun, damit er kein Heiliger wird?“ klagt er.
Regisseur Zülfü Livaneli wurde nach langen Jahren des Exils in seiner türkischen Heimat berühmt, als er die Musik zu Yilmaz Güneys Film Yol komponierte. Sein Leben, sagt er, balanciere zwischen der Literatur und der Musik. Sein erster Film ist kunstvoller Ausdruck dieser Balance und zugleich eine Hommage an seinen Lehrmeister Yilmaz Güney, dessen letzte Filme auch nach seinem Tod in der Türkei nicht gezeigt werden dürfen. Die literarische Vorlage für den Film stammt von einem der bekanntesten Schriftsteller der Türkei, von Yasar Kemal. Selbst in Anatolien geboren, arbeitete er als Hirte, Wasserträger, Schuster, Traktorfahrer; um die Epen und Lieder seines Volkes zu sammeln, lernte er Lesen und Schreiben, als einziges Kind aus seinem Dorf.
„Ein Wunderheiler im Atomzeitalter, in unserer modernen Türkei?“ - erst als ein Soldat, vom Bürgermeister des Dorfes informiert, diese Frage stellt, erkennen wir: Dieser Film über Schuldner und Gläubiger, über winterweißes Schweigen und die Sprache uralter Legenden spielt nicht in alten Zeiten: ein Schock. Der Film muß die Balance finden, in der die Geschichte nicht der Moderne geopfert wird und die Legenden ebenso eine Berechtigung haben wie die Menschen, die keine Wunder erhoffen, weil sie genügend wissen. Daß ihm das gelingt, ist nicht zuletzt der Kamera von Jürgen Jürges zu verdanken (der für diese Arbeit mit dem Deutschen Kamerapreis 1988 ausgzeichnet wurde). Seine Bilder zeigen, wie zwiespältig der Weg des „Wundertäters“ Tashbash ist, in den Gesichtern, den kleinen Häusern, den geduckten Körpern der Menschen. Ahmed, der „Umnachtete“, der Narr des Dorfes, tanzt im Schnee; umringt von allen Kindern, ist er das eigentliche sprachlose Zentrum dieses Dorfes. Daß gerade Tashbash, der Lesende, der Lügen und Abhängigkeiten durchschaut, zum Helden wird, gehört zum Stoff, aus dem die Wunder entstehen.
Lore Kleinert
Zülfü Livaneli: Eisenerde - Kupferhimmel, nach dem Roman von Yasar Kemal
Kemals Roman Eisenerde - Kupferhimmel liegt als zweiter Teil der anatolischen Trilogie im Unionsverlag Zürich auf Deutsch vor.
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