: Prima leben unterm Stiefel
Montagsexperten kommen zu Wort: Enno Bohlmann ■ Ü B E R L E B E N S B Ö R S E ‘ 8 9
Es grassiert. In den hiesigen Kinosälen macht sich eine bodenlose Geschwätzigkeit breit. Hemmungslos plappert es. Würde es wenigstens vertraulich tuscheln, nähme man es ungerührt hin. Aber nix da: es jiffelt und jaffelt, daß es nur so eine Art hat. Vorbei die Plage der Kinoliebespaare (1986/87), die regelmäßig just vor meinen Augen sichtbehindernd ihre Zungen ineinanderhakten, vorbei, doch nur, um neuen Teufeleien Platz zu machen. Dem überstandenen Anschlag auf die Sichtverhältnisse folgt der blanke Lärmterror.
Einem Jungregisseur auf der Belinale mag man es gerade noch nachsehen, daß er während der Vorführung beständig rumplärren muß, um von der Leinwand abzulenken. Aber wie so oft werden schlechte Manieren vom Publikum begeistert aufgenommen und flächendeckend verbreitet. Die erste Konfrontation mit der neuen Unsitte hatte ich im Babylon. Ohne Böses im Schilde zu führen, besuchte ich eine Vorstellung von „Double Indemnity - Eine Frau ohne Gewissen“. Der Film war keine fünf Minuten alt, als zwei schwäbische Maulwerke loslegten und gleich nicht mehr aufhörten. Offensichtlich konnte das Leinwandgeschehen ihrem fortschrittlichen Weltbild keine Bestätigung geben, so daß sie nach ihnen gemäßen Helden verlangten. Animiert durch das Geschwätz meldete sich eine alkoholisierte Seele lautstark zu Wort und ließ seinen Empfindungen der Heldin gegenüber freien Lauf („Schlange / Scheißweiber / Abknallen“). Na gut, das kann vorkommen: Der eine will mal die Sau rauslassen, die anderen zwei sind gewöhnliche Berufskreuzberger mit Drang zur Dicktuerei („Wir in Sechsunddreißig“), denen muß man das schon mal durchgehen lassen.
Eine eklatante Fehleinschätzung. Gleich beim nächsten Kinobesuch („Die Unzertrennlichen“) startet wieder ein besinnungsloses Kaffeekränzchen. Während die rechten Sitznachbarn rumrätseln, wer welcher Zwilling sei, erörtert eine gemischtgeschlechtliche Dreier-WG in der hinteren Reihe neben Problemen ästhetisch-ethischer Natur etwaige Reise und Besuchspläne. Bei „Scanners“ das gleiche Bild: kleine Diskussionsrunden in allen Sitzreihen. Höhepunkt: als der Held mit den ungewöhnlichen PSI-Fähigkeiten sein Gehirn zwecks Informationsbeschaffung an einen Computer anschließt, schwillt der Redestrom sprunghaft an, um mit erbarmungsloser Empörung das unrealistische Geschehen zu geißeln. Hohle Schwatzmäuler und kleinkarierte Wirklichkeitskrämer bevölkern die Kinosäle. Doch, doch. Ist diese Entwicklung noch zu stoppen? In „Talk Radio“ bebölkt eine vielköpfige Altbubitruppe auf Kasernenurlaub mit stammtischmäßigem Höhö -Gegröhle, zwei Männerfreunde haben einen Chabrol-Film bestimmt, um sich einander höchstwichtige Angelegenheiten mitzuteilen, und für das Ehemaligentreffen hat sich ein reddseliges Kichergrüppchen „Roma“ ausgesucht.
Trübsinnig möchte man werden. Eine dummdreiste, nichtsnutzige Schnatterei waltet, die gleichsam nur die seelenlose, auf der Stelle tretende Betriebsamkeit im posthumanen Kapitalismus verlängert und im dialektischen Gegenzug versucht, die forcierte Entblödung durch eine anachronistische Heimeligkeit emotional zu übertünchen, indem sie danach trachtet, die Fernsehzimmerseligkeit (knabbern, trinken, reden) in die Stätten der Kulturindustrie hinüberzuretten, was selbstredend und a priori ein nachgerade schwachsinniges Unterfangen ist und ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Verblendung seiner Betreiber wirft. Tja, ein analytisch stringenter Gedanke, der leider nie zu den elenden Schwätzern durchdringen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen