Die Meister der leeren Hand

Wenig Blut, dafür saubere Technik bei den Berliner Vereins- und Einzelmeisterschaften im Karate  ■  Von Olga O‘ Groschen

Kurz vor dem Kirschblütenfest mit dazugehörigem Sake-Gelage gaben sich die Berliner Nachkommen der Samurai ein lächelndes Stelldichein in den hiesigen Turnhallen, um die besten Karateka zu ermitteln und für ihre Kunst zu werben. Haben die Berliner Cracks auf bundesdeutscher Ebene auch wenig zu bestellen, als Breitensport hat Karate in dieser Stadt eine gute Stellung, es gibt fast doppelt soviele Karatevereine wie Boxvereine.

Daher bot sich an den beiden März-Wochenenden ein buntes Bild. Vertreter der grassierenden Schnauzerkultur waren gekommen, Pferdeschwänzchen und Blankschädel standen einträchtig nebeneinander, im Kampf schnaufte ein massiger Bulle gegen ein flinkes Hemdchen. Unter den Zuschauern waren aufgeregte türkische Kids zu finden wie sanfte Müsliväter, Studenten gafften am Rand der Kampfflächen, und die obligatorischen Blondinen nahmen ihre abgekämpften Helden mit Küßchen in Empfang: „War jut Männe.“

Unter den Kämpfern mochte wohl auch einmal eine Zahnlücke grinsend grüßen, doch der martialische Anstrich ist dem heutigen Sportkarate nurmehr äußerlich; Dachziegel werden nicht mehr zerschmettert, und auch die altehrwürdige Technik Ikken Hissatsu, „mit einem Schlag töten“, findet sich nicht im Programm. Immerhin stand vor der Turnhalle, aus der die Kampfschreie dröhnten, ein Rettungswagen und in der Hallen saßen eilfertig bei Verletzungen herbeispringene Ärzte und Arbeitersamariter.

Wer jedoch von den Zuschauern wegen knackender Knochen oder blutbefleckter Anzüge gekommen war, sah sich rasch enttäuscht. Zwar brachen hier und da, bei den Frauen nicht weniger als bei den Männern, einige brüllend zusammen oder schnieften durch blutende Nasen, doch das waren verschwindende Randerscheinungen. Die anfangs vollbesetzten Tribünen lichteten sich daher zusehends, bis schließlich die Berliner Karategemeinde unter sich war.

Für ungeübte Betrachter ist das Sportkarate tatsächliche eine zwiespältige Angelegenheit: Die Kampfaktionen haben eine wundervolle Kraft und Schärfe, sind aber meist zu schnell, um eindeutige Techniken erkennen zu lassen.

„Das tu‘ ich mir so schnell nicht wieder an“, murrte eine Zuschauerin, die zum ersten Mal da war, „die hopsen in ihren weißen Anzügen herum mit viel Geschrei, und dauernd fummelt ein Kampfrichter dazwischen.“ Tatsächlich sind es drei Kampfrichter, die beratend ihre Köpfe zusammenstecken, um die Techniken zu bestimmen und zu bewerten, während die Zuschauer am Rand ebenfalls völlig uneins über sekundenschnelle Schlag- und Trittabfolgen sind.

Anders als der Boxer versucht der Karateka nicht, den Gegner mit Schlägen einzudecken und so zu zermürben, sondern er sucht eine Technik sauber und präzis ins Ziel zu bringen, das heißt, kurz vor dem Kontakt abzustoppen. Kopftreffer werden nicht nur gewertet, sondern bestraft bis zur Disqualifikation, ebenso verwischte und unkontrollierte Aktionen. Lobenswerterweise kannten die Kampfrichter hierbei keine Gnade und schreckten auch vor Lokalgrößen wie Frank Böhmer nicht zurück, der während der Allkategoriekämpfe wegen eines Halstreffers rausflog. Und sich nicht entblödete, lautstark Protest anzumelden.

Gute und spannende Kämpfe waren allemal zu sehen, vor allem, wenn flinke flexible Techniker aufeinandertrafen, die mit feinen Finten und Finessen arbeiteten und dann mit genialen Ura-Mawashi-Geri (kreisförmiger Rückwärtsfußstoß) zum Kopf abschlossen. Die Dinosaurier der oberen Gewichtsklassen dagegen vernachlässigten öfter die Beinarbeit und vertrauten den gewöhnlichen Zukis.

Etwas traurig war die mangelnde Beteiligung bei den Kata -Wettbewerben (bei den Männern trat gar nur ein Verein an). Anders als die Kämpfe, die mit sechs, sieben verschiedenen Techniken nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Karate zeigen, lassen die Kata (festgelegte Schattenkampfformen) weit eher den Reichtum und die Schönheit des traditionellen Karate ahnen. Hier ließen sich auch deutliche Unterschiede in den Stilen ausmachen, die langen kraftvollen Bewegungen und tiefen Stände beim Shotokan einerseits und andererseits die kurzen und mehr atemorientierten Abfolgen beim Wadoryu.

Angesichts der traurigen Entwicklungen beim Vollkontakt -Karate, Kickboxen und Taekwondo sollte das traditionelle Karate bei öffentlichen Wettbewerben nicht darauf verzichten, den ganzen Bewegungsreichtum dieser Kampf- und Körperkunst zu demonstrieren. „Oberstes Ziel in der Kunst des Karate“, sprach Meister Funakoshi, „ist weder Sieg noch Niederlage, sondern die Vervollkommnung des Charakters der Kämpfer.“