: „Unterhöhlung der Aussagefreiheit“
Essener Rechtsanwalt zur Aussageerzwingung bei Zeuginnen in 129a-Prozessen ■ I N T E R V I E W
taz: Im Rahmen der Großrazzia vom 18.12. 1987 gegen die Revolutionären Zellen (RZ)/Rote Zora haben etwa zwei Dutzend Zeuginnen jegliche Aussage verweigert. Gegen acht Personen wurde auf Antrag der Bundesanwaltschaft (BAW) im Laufe der Zeit Beugehaft angeordnet. Eine Frau sitzt inzwischen in Haft. Hat es früher Vergleichbares gegeben?
Axel Nagler: Soweit mir bekannt ist, gab es solche großgefächerten Aktionen zur Aussageerzwingung bisher noch nicht, auch nicht im Rahmen des Paragraphen 129a.
Mehrere Zeuginnen, auch die jetzt einsitzende Frau, werden mit Beugehaft bedroht, obgleich ein Ermittlungsverfahren nach 129 a wegen dieser Zeugnisverweigerung gegen sie eingeleitet wurde. Als Beschuldigte haben sie doch ein Schweigerecht?
Das ist meine Auffassung. Die BAW bedient sich eines Tricks, in dem sie behauptet, die Betroffenen seien in dem Verfahren, in dem sie gefragt werden, lediglich Zeuginnen, während ihre Ermittlungsverfahren davon getrennte Verfahren seien. Formal ist das richtig.
Sie sollen aussagen in Verfahren wegen Mitgliedschaft in der RZ. Gleichzeitig laufen Ermittlungen gegen sie selbst wegen Unterstützung der RZ. Ist da nicht selbst formal die Trennung aufgehoben?
Mit formal meine ich lediglich, daß mehrere voneinander getrennte Ermittlungsverfahren geführt werden. Inhaltlich gibt es diese Trennung nicht, und deshalb kann es nicht richtig sein, daß jemand, der Mitbeschuldigter ist, durch formale Trennung quasi zum Zeugen degradiert wird mit der Folge, daß er kein Schweigerecht hat. Beim Verteidigerausschluß wird zum Beispiel völlig anders verfahren: Da wird immer gesagt, daß ein Verteidiger, der eine Person vertritt, die der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ beschuldigt wird, nicht gleichzeitig einen Beschuldigten vertreten kann, dem die Unterstützung derselben Vereinigung vorgeworfen wird. Was im Bereich des Verteidigerausschlusses gilt, muß erst recht bei dem sehr viel höher zu bewertenden Recht auf Aussagefreiheit zur Anwendung kommen. Juristisch gibt es nur noch die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. Angesichts der drastischen Unterhöhlung der Aussagefreiheit neige ich dazu, meiner Mandantin diesen Weg zu empfehlen.
In der Öffentlichkeit scheint die neuerliche Beschneidung der Rechte von Beschuldigten niemanden zu interessieren.
Wir machen seit Jahren die Erfahrung, daß nur ganz, ganz wenige auf Verschärfungen im Bereich des Strafprozeß- oder des Polizeirechts sensibel reagieren. Die Masse der Bevölkerung hat die Haltung, ich habe ja nichts gemacht, und mir kann sowas nicht passieren. Im konkreten Einzelfall stellt sich das oft als gravierender Irrtum dar, und dann verwandeln sich ordnungsliebende Durchschnittsmenschen nicht selten zu Vorkämpfern liberalen Rechtsstaatsdenkens.
Das Gespräch führte Walter Jakobs
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