: „Menschenrechte haben auch für Gefangene zu gelten“
■ Interview mit Klaus Jünschke zum Hungerstreik der Gefangenen aus RAF und Widerstand / „Die Hungerstreikforderungen müssen kämpferisch aber gewaltfrei unterstützt werden“ / Mit der Einführung der Isolationshaft hat der Staat der RAF eine selbstkritische Bilanzdebatte erspart“
Frage: Die Gefangenen aus RAF und Widerstand befinden sich in ihrem zehnten Hungerstreik. Wie ist dieser Hungerstreik zu beurteilen?
Klaus Jünschke: Die Hungerstreikerklärung von Helmut Pohl hat Hoffnungen geweckt: eine persönliche Sprache, Verzicht auf die martialischen Parolen der Vergangenheit, und vor allem wird die Forderung nach Zusammenlegung und nach Diskussionen mit allen gesellschaftlichen Gruppen als Übergang bestimmt. Die Gefangenen reden erstmals von ihrer Freiheit als dem eigentlichen Ziel. Problematisch finde ich, daß von Begnadigungen und von Amnestie abwertend die Rede ist, weil man sich damit Türen verschließt, die in die Freiheit führen. Schwer verständlich ist die Zurückhaltung in Sachen Selbstkritik. Es hat sich ja rumgesprochen, daß viele Gefangene zumindest einige der letzten RAF-Morde scharf kritisieren - wieso wird das nicht öffentlich gemacht? Wie der Hungerstreik selbst zu beurteilen ist, bleibt erfahrungsgemäß von seiner Entwicklung abhängig, von dem, was die Gefangenen noch sagen werden und vom Verhalten der Sympathisanten. Das fehlende Bewußtsein in dieser Gesellschaft davon, daß die Menschenrechte auch für die Gefangenen zu gelten haben, ist Ursache dafür, daß Gefangene erst einen Hungerstreik machen müssen, sich erst in Lebensgefahr begeben müssen, damit eine gesellschaftliche Debatte über ihre Situation und ihre Forderungen stattfindet.
Diese Diskussion hat nicht stattgefunden und sie findet nicht statt. Die Gefangenen sind durch die Isolation am Kommunikationsprozeß gehindert. Sympathisanten droht der §129a. Diese Situation ist seit 18 Jahren festgefahren. Gibt es Möglichkeiten, diese starren Fronten aufzulösen?
Diskutiert wurde immer. Seit 1970. Alles, was zum Thema RAF, zu den Haftbedingungen, zu Hungerstreiks gesagt und geschrieben wurde, wiegt mittlerweile Tonnen. Daß es keine kontinuierlichen Kampagnen zur Ächtung der Isolationshaft gegeben hat, daß das politische Gewicht all dieser Diskussionen, all dieses bedruckten Papiers so gering blieb und viele engagierte Kämpfer für Menschenrechte sich von den Gefangenen resigniert zurückgezogen haben, das hat die RAF mitzuverantworten. Wer die Welt nach dem Schema „Schwein oder Mensch“ sortiert und alle Andersdenkenden aggressiv denunziert, sollte sich nicht wundern, wenn er sich politisch isoliert.
Aber unabhängig von dem, was die RAF machte und was die Gefangenen aus der RAF sagen oder schreiben, ist ihr Anspruch, sie haben ein Recht auf erträgliche Haftbedingungen. Unser aller Pflicht ist es, dafür einzutreten. Was vergibt sich dieser Staat, wenn er die Hungerstreikforderungen nach Zusammenlegung, Entlassung der Haftunfähigen erfüllt? Wenn man nicht bereit ist, die Gefangenen aus der RAF wie alle anderen Gefangenen auch zu behandeln, dann sollte man sie in einem Gefängnis zusammenlegen.
Das wird nicht passieren.
Abwarten. Allerdings waren die staatlichen Reaktionen auf die Gefangenenforderungen noch nie sehr souverän. Es ist skandalös, auf Forderungen, deren Einlösung das Grundgesetz gebietet, wie auf eine Bürgerkriegshandlung zu reagieren. Wenn ein berechtigtes Anliegen von Gefangenen zu einer Prestigefrage hochstilisiert wird, nimmt man sich auf seiten des Staates den Handlungsspielraum für Kompromisse. Die Wahlerfolge der „Republikaner“ in Berlin lassen befürchten, daß die CDU/CSU jetzt noch weniger christlich und noch weniger sozial reagieren wird als in der Vergangenheit.
Es braucht wohl öffentliche Unterstützung und Solidarität draußen.
Unbedingt. Gerade die Wahlerfolge der Rechtsradikalen müssen ein Grund mehr sein, den Gefangenen beizustehen. Es gibt dadurch aber auch einen Grund mehr, an alle zu appellieren, die meinen, die Hungerstreikforderungen seien mit Gewalt durchzusetzen - egal was passiert, haltet die kämpferischen Proteste und die Aufklärungsarbeit gewaltfrei durch! Wenn das möglich ist, dann ist auch eine breite Bewegung gegen die Isolationshaft möglich, von einer Stärke, wie sie diese Gesellschaft noch nicht erlebt hat.
Du hast diese Haftbedingungen jahrelang am eigenen Leib gespürt. Du warst viele Jahre in Isolationshaft und hast selbst auch an Hungerstreiks teilgenommen. Welchen Bedingungen ist man als Gefangener in solchen Situationen unterworfen, wie erlebt man das?
Einzel- und Kleingruppenisolation, das heißt mit sich selbst oder ein paar wenigen anderen Tag für Tag, über Monate und Jahre allein zu sein, ganz allein, ohne Kontakt zum normalen Knastleben, zu anderen Mitgefangenen. Das ist dem Leben so feindlich entgegengesetzt, das wird mit der Dauer so unerträglich, daß man krank wird. Die eine oder zwei Stunden Besuch im Monat, die Briefe, die man erhält, die Zeitungen und ein eigenes Radio oder gar ein Fernseher das alles ändert daran grundsätzlich nichts. Persönlicher, menschlicher Kontakt ist durch nichts zu ersetzen. Und weil das so ist, weil sie Isolationshaft die Leidensfähigkeit eines jeden Menschen irgendwann übersteigt, wird diese Haftform zu Recht als Folter bezeichnet. Sie muß geächtet werden.
Wenn man keine oder zuwenige soziale Kontakte hat, keine Abwechslung um sich herum erfährt und erlebt, dann beschafft sich das Gehirn die Reize, die es zu seiner Funktion braucht, dadurch, daß es diese Reize selbst produziert. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit bedeutet das für alle Langzeitgefangenen die Ausbildung einer leichten Paranoia. Man riecht Gerüche, die nicht da sind, man hört Stimmen, die es nicht gibt, man schmeckt im Essen Dinge, die nicht drin sind, man kriegt Halluzinationen. Die Angst davor, verrückt zu werden, wird einem zum Problem. Die Gefangenen leben nicht eingebildeterweise in einem extremen Ausnahmezustand, sie sind wirklich in einem extremen Ausnahmezustand.
Allerdings waren die bisherigen Hungerstreiks und Proteste gegen die Isolationshaft nicht ganz erfolglos, längst sind nicht mehr alle Gefangenen vollständig isoliert. Dabei wird aber oft der Normalvollzug so sicherheitswahnsinnig gestaltet, daß das für die betroffenen Gefangenen ähnlich unerträglich ist.
Das Ziel der Haftbedingungen ist es, die politischen Gefangenen ihrer politischen Identität zu berauben. Du selbst hast dich 1977, nach fünf Jahren Isolation, vom bewaffneten Kampf losgesagt. Haben die Haftbedingungen bei dir ihr Ziel erreicht?
Mir hat niemand die politische Identität geraubt. Ich habe mich zusammen mit Manfred Grashof im Sommer 1977 von der RAF getrennt. Das politisch-militärische Selbstverständnis als RAF-Mitglied habe ich damit aufgegeben, eher mehr gewonnen als verloren. Das war für mich ein Emanzipationsprozeß. Nachdem ich normale Haftbedingungen hatte, habe ich meine Kritik an der RAF öffentlich zur Diskussion gestellt, das war acht Jahre später. Im Frühjahr 1985 habe ich der taz ein Interview gegeben. Bis dahin habe ich geschwiegen, weil ich die normalen Haftbedingungen nicht über eine Distanzierung von meiner Geschichte als RAF-Mitglied erreichen wollte. Manfred Grashof ist ohne jede öffentliche Distanzierung begnadigt worden. Verena Becker, die mit Günter Sonnenberg verhaftet wurde und wie er lebenslänglich hat, wird wohl auch demnächst entlassen werden, ohne öffentliche Distanzierung. Ich sehe in der Isolationshaft nicht die Ursache für meine Trennung von der RAF, sondern im Gegenteil den Hauptgrund dafür, daß diese Trennung erst so spät erfolgte.
In den ersten RAF-Texten stand: „Ob es richtig und möglich ist, hier in der Bundesrepublik Stadtguerilla zu machen, das kann nur praktisch ermittelt werden.“ Das wurde praktisch ermittelt. Die RAF hatte 1970 und 1971 als verfolgte Gruppe noch Sympathien. Das war nach der Offensive mit den sechs Bombenanschlägen im Frühjahr 1972 vorbei.
Spätestens danach hätte es eine Bilanzdebatte untereinander und mit der Linken geben müssen. Statt dessen wurden wir einer extremen Isolationshaft unterworfen, Astrid Proll und Ulrike Meinhof sogar in einem toten Trakt. Uns wurde statt dessen ein Kampf ums Überleben aufgezwungen war, der im dritten Hungerstreik im Oktober 1974 so eskalierte, daß Holger Meins im Gefängnis verhungerte, in Berlin Richter Drenkmann erschossen und im Frühjahr 1975 die bundesdeutsche Botschaft in Stockholm besetzt wurde. Zwei tote Diplomaten, zwei tote RAF-Mitglieder. Eine selbstkritische Auseinandersetzung auch mit dieser Aktion steht noch aus.
Der Staat, die sozialliberalen Regierungen haben mit der Isolationshaft dafür gesorgt, daß der RAF 1972 eine selbstkritische Auseinandersetzung erspart blieb. Diese Republik hat dann eine zweite und eine dritte Runde im sogenannten bewaffneten Kampf erlebt. Diese damals versäumte Diskussion darf denen, die sich heute noch zur RAF bekennen, nicht noch einmal erspart werden, bei gleichzeitiger Solidarität mit ihnen in ihrem Kampf gegen die Isolationshaft, für die Zusammenlegung.
Es ist ein objektives Dilemma für alle Gefangenen - wer sich von der RAF trennt, trennt sich in einer sehr unfreien Situation, und es gibt sofort Beifall von der falschen Seite. Das ist fürchterlich, wenn man von der Seite, die einem all die Jahre das angetan hat, was man durchzumachen hatte, plötzlich gelobt wird, in aller Öffentlichkeit als „zur Vernunft gekommen“ vorgeführt wird, und gleichzeitig von Linken, selbst von Leuten, die mit der RAF absolut nichts am Hut haben, Kapitulant genannt wird. Da feiert dumpf-deutscher Starrsinn Triumphe nach dem Motto „Unsere Ehre heißt Treue“.
Gibt es denn keine Kriterien für eine Politik, die mit der Bestimmung angetreten ist, „die Internationale erkämpft das Menschenrecht“? Ist es für die Linke legitim und möglich, bei Banküberfällen, also für Geld, Menschen zu töten? Ist es legitim, Bomben abzulegen, ohne zu wissen, wen es trifft? Sind Geiselnahmen legitim? War es legitim, den Gefangenen Schleyer zu ermorden? War das Zusammenschießen seiner Bewacher legitim? Gibt es denn einen einzigen Menschen, den die RAF zu Recht umgebracht hat? Und wie sieht es mit den Toten in den eigenen Reihen aus, diese vielen Toten, allein neun Gefangene. Sollen wir mit diesen Toten so umgehen, wie es der Gefühlsstalinist Geissler in kamalatta empfiehlt: „Beweint nicht die toten, ersetzt sie“?
Soll man die Hände in den Schoß legen und sagen, der bewaffnete Kampf ist gescheitert und hat in der Form in den westlichen Metropolen keine Chance, keine Basis, oder wie beurteilst du vor diesem Hintergrund die Möglichkeiten des politischen Widerstands heute?
Angesichts einer RAF-Genickschußpraxis, die es möglich machte, daß ein RAF-Pärchen einen 20jährigen US-Soldaten aus einer Disko lockte und ihn ermordete, weil sie seinen Ausweis für einen Anschlag brauchten, aber auch angesichts der Startbahnmorde brauchen wir eine Diskussion über Moral, über Kriterien linker Politik, und die Diskussion muß über die bloße Bestimmung, daß der bewaffnete Kampf der RAF zu beenden ist, weil er nicht klappte, weit hinausgehen. Wer eine Gesellschafft will, in der das Freiheits- und das Gerechtigkeitsversprechen der Menschenrechte eingelöst ist, muß sich untereinander und auf dem Weg dahin nach dieser Maxime verhalten.
Unsere Hauptfrage ist die Gewaltfrage als Frage nach wirksamen Aktionen nicht, und schon gar nicht dieses Distanzierungsproblem, das von der Staatsseite kommt. Wir haben Aktionen zu erfinden und alternative Institutionen zu entwickeln, die eine Bearbeitung der gegebenen Gewaltverhältnisse zwischen den Menschen in dieser Gesellschaft und die Auflösung ihrer Folgen ermöglicht. Am nächsten kommt dem bis jetzt die Frauenbewegung mit ihrer Thematisierung der Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Es geht gerade nicht darum, gegenüber einer immer gigantischer werdenden Machtkonzentration in Staatsapparaten, Banken und Konzernen wehrlos zu bleiben, soviel Beweglichkeit zu erzeugen, soviel Menschlichkeit lebbar zu machen, daß eine den objektiven Erfordernissen und Möglichkeiten angemessene Veränderung der schlechten gesellschaftlichen Realität in Gang kommt oder verstärkt wird.
Nur so sehe ich auch eine Massenperspektive gegen den 129a und gegen die Isolationshaft. Dabei geht es nicht nur um die Gewalt zwischen den Geschlechtern und die Gewalt zwischen den Generationen, gegen Kinder und gegen die Alten, es geht wesentlich auch um die Gewalt gegen die Randgruppen, gegen die Marginalisierten, unsere Beziehungen zu den Kriminalisierten und Psychiatrisierten müssen neu bestimmt werden.
Die desolate Linke muß praktische Antworten auf die hier und jetzt gegebenen Nöte finden. Nicht nur, weil einander zu helfen wieder menschlich selbstverständlich werden muß, sondern auch aus politisch-strategischen Gründen. Wenn die Randgruppen in den laufenden Verelendungsprozessen alleingelassen bleiben, wird das keine revolutionäre Situation vorbereiten, sondern Barrikaden menschlichen Elends gegen mögliche gesellschaftliche Emanzipationsprozesse schaffen. Das ist das Perfide dieses reaktionären Projekts einer Zweidrittelgesellschaft.
Überarbeitete Fassung eines Interviews, das am 14.Februar von Radio „Z“, Nürnberg, gesendet wurde.
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