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„Paßt auf, Genossen!“

UdSSR: Wahlkontrolleure befürchten bei den Wahlen zum Volksdeputierten-Kongreß Mauscheleien / Die Korrespondentin war bei einer Lagebesprechung dabei  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Am kommenden Sonntag finden in der Sowjetunion die Wahlen zum Volksdeputierten-Kongreß statt. Aus ihnen soll ein gestärktes Gesetzgebungsorgan hervorgehen, ein Ersatz des Obersten Sowjet.

Die Wahlvorbereitungen in dem abgelegenen Moskauer Stadtteil Otradnoje zeugten von ungewöhnlicher, aufgebrachter Stimmung. In Otradnoje, einer in Beton gegossenen Satellitenstadt, trafen sich am Wochenende VertreterInnen aller Moskauer Wahlkreise. Sie überwachen als ehrenamtliche KontrolleurInnen den Wahlvorgang zum Volksdeputierten-Kongreß. Ihr Treffpunkt, der „Agitpunkt“ des Wohnblocks, eine umfunktionierte Parterrewohnung, wurde in der Nacht zum Samstag verwüstet: Die Fenster wurden eingeschlagen, Fotografien von den Wänden gerissen, Stühle zu Kleinholz zerschmettert, ein Haufen von Stuck und Mörtel auf dem Fußboden. „Dumme Teenager“, meinten die zwei Milizionäre, die den Tatort absicherten. „Faschistischer Psychoterror“, konterten Umstehende.

Die ehrenamtlichen Wahlbeobachter hatten sich inzwischen ein paar Häuserblocks weiter geflüchtet. Die kleine Gesellschaft, zur Hälfte Frauen, eine Mischung aus Angestellten, ArbeiterInnen, Hausfrauen, StudentInnen und pensionierten WissenschaftlerInnen, tauschten Telefonnummern für den Fall aus, daß sich am Wahltag nicht genug freiwillige KontrolleurInnen einfänden. Sie befürchteten, daß Wahlergebnisse gefälscht werden. „Marina Iwanowna hat noch zwanzig Freiwillige an der Hand und Pjotr Alexejewitsch noch 14“, verkündete der Diskussionsleiter. „Leichter kann man es dem KGB nicht machen“, brummelte einer der Anwesenden unzufrieden. „Was wollen Sie denn?“ empörte sich eine Frau, „haben wir denn etwas zu verbergen? Sind wir etwa Faschisten?“ Der Diskussionsleiter griff begütigend ein: „Auch die meisten Mitglieder der Wahlkommissionen sind normale sowjetische Menschen. Auch unter ihnen werden Jelzin -Anhänger sein.“

Eifrig wurden wieder Tips zur Unterrichtung der WählerInnen und zur Vereitelung von Wahlbetrug notiert. „Paßt auf, Genossen, daß alle unbenutzten Stimmzettel sofort nach Schließung der Wahllokale noch vor euren Augen verbrannt werden“, mahnte der Diskussionsleiter. Und weiter: „Sagt den Wählern, wenn sie in einem Bezirk eine Nachwahl erzwingen wollen, wo nur Vertreter der politischen Führungselite kandidieren, dürfen sie nur deren Nachnamen durchstreichen. Bei durchgestrichenen Vornamen sind die Stimmen ungültig.“ Die freiwilligen Kontrolleure beschlossen, am Wahlabend ein Telefonzentrum einzurichten, um festzustellen, wo verdächtig viele ungültige Stimmen auftauchen. Der Diskussionsleiter fuhr in seinen Erklärungen fort: „Vergeßt nicht, daß auch die Mitglieder der Wahlkommissionen nur Menschen sind. Nach 20 Uhr werden sie sich bestimmt in die Nebenräume verkrümeln. In solchen Momenten, in denen nur noch einer oder zwei von ihnen aktiv sind, bedarf es eurer besonderen Aufmerksamkeit. Und vergeßt nicht: Vorsitzende sowjetischer Wahlkommissionen haben seit jeher die Angewohnheit, die Ergebnisse der Stimmenauszählungen mit Bleistift ins Protokoll einzutragen. Diese Angewohnheit, Genossen, ist ungesetzlich. Wenn ihr sie dabei erwischt, drückt ihnen sofort einen dokumentenechten Kugelschreiber in die Hand. Genossen, der nächste Sonntag wird für uns alle ein langer Tag.“

Nebenan erzählt ausgerechnet ein Arbeiter der Bleistift und Kugelschreiberfabrik „Sojus“ den umstehenden Neugierigen, was geschah, als das Arbeitskollektiv der Fabrik Boris Nikolajewitsch Jelzin für den letzten Freitag zu sich eingeladen hatte: „Genau eine Stunde vor dem Termin erhielt Boris Nikolajewitsch eine Absage. Angeblich von uns, in Wahrheit aber von der Fabrikleitung. Nach einigem Hin und Her ist Boris Nikolajewitsch dann doch noch zu uns gekommen. Und ich war richtig stolz. Abgesehen von ein paar kleinen Störungen, als der Direktor das Wort ergreifen wollte und die Leute ihm zuriefen: 'Halt dein Lügenmaul‘ und 'Hals umdrehen‘, konnte sich Boris Nikolajewitsch mit uns so gepflegt unterhalten wie zu Hause im Wohnzimmer. Daß wir Alten uns nach so viel Leiden und Rechtlosigkeit an einen Hoffnungsschimmer klammern, ist ja ganz natürlich. Aber über die Jugend war ich freudig überrascht“, schloß der Arbeiter seinen Bericht.

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