: Drogenkonsum wird tabuisiert
Dr. Ingo Michels und Michael Gähner, Mitarbeiter des Referats „Drogen und Strafvollzug“ der Deutschen Aids-Hilfe in West-Berlin, zur Situation der HIV-Infizierten und Aidskranken in bundesdeutschen und Westberliner Haftanstalten ■ I N T E R V I E W
taz: Wie seht ihr die gegenwärtige Situation der HIV -Infizierten und Aidskranken in bundesdeutschen und Westberliner Haftanstalten?
Dr. Ingo Michels: In der BRD und West-Berlin befinden sich zirka 45.000 Menschen in Haft, davon mindestens 10 Prozent wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BTM). Von den 1.600 inhaftierten Frauen ist der Großteil wegen BTM -Verstoß und Beschaffungskriminalität inhaftiert. Wir gehen davon aus, daß mindestens ein Viertel der inhaftierten Drogenabhängigen HIV-positiv ist, also etwa zweitausend. In den meisten Haftanstalten in der BRD werden die Fixer mehr oder weniger gezwungen, sich testen zu lassen. Wenn dann das Testergebnis positiv ist, werden sie mit ihren Problemen allein gelassen, da weder vor noch nach dem Test eine psychosoziale Betreuung erfolgt. Außerdem liegen uns eindeutige Erkenntnisse vor, daß die Gefangenen zu anstaltsinternem Personal kein Vertrauen haben. In den vielen Briefen, die uns erreichen, berichten uns die Gefangenen von geradezu katastrophalen Zuständen in der medizinischen Versorgung im Knast. HIV-Positive werden diskriminiert, von bestimmten Arbeitstätigkeiten ausgeschlossen und weitgehend in Einzelhaft isoliert. Praktisch sieht das dann so aus, daß ein Gefangener, dem gerade mitgeteilt wurde, daß er positiv ist, mit der Angst, möglicherweise eine tödlichen Krankheit zu haben, 23 Stunden am Tag allein gelassen wird. Als besonders skandalös empfinden wir die Praxis der Justizbehörden, selbst diejenigen nicht aus der Haft zu entlassen, die am Vollbild Aids erkrankt sind. Wir finden es unmenschlich und zynisch, wenn, so geschehen in Köln, ein Gnadenrichter beziehungsweise Beauftragter der Justiz einem an Aids erkrankten Gefangenen die Haftentlassung mit der folgenden Begründung verweigert: „Verurteilte können auch dann nicht vom Vollzug freigestellt werden, wenn sie an einer zum Tode führenden Krankheit leiden, ausgenommen die letzten Wochen vor dem Tod.“
Michael Gähner: Die Zahl der HIV-Infizierten ist in den Berliner Haftanstalten ungleich höher als in den meisten bundesrepublikanischen Haftanstalten. Der in der Öffentlichkeit immer bestrittene Drogenkonsum in Berliner Haftanstalten war zum Beispiel in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel noch nie so hoch wie zur Zeit. Zur HIV -Prävention wird unserer Erkenntnis nach in keiner Berliner Haftanstalt das Notwendige unternommen. Anstatt sofort das mindeste in die Wege zu leiten, nämlich Spritzen zu verteilen, wird hingenommen, daß Junkies im Knast die Spritze untereinander tauschen und sich reihenweise infizieren.
Welche Bemühungen gibt es seitens der Justizbehörden, das Problem in den Griff zu bekommen?
Ingo Michels: In einzelnen Bundesländern gibt es inzwischen Versuche, die harte Linie der Justizministerien bezüglich der Spritzenvergabe zu unterlaufen. So hat unlängst der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Peter Caesar, die Meinung vertreten, daß zur Aidsprävention in den Haftanstalten Einwegspritzen verteilt werden sollten. Er hat zugleich auch zugegeben, das 30 Prozent der Inhaftierten in Rheinland-Pfalz Drogen konsumieren. Peter Caesar ist bislang ein Einzelfall, wenn er ausspricht, was eigentlich allen Justizministerien bekannt ist. Bayern zum Beispiel bestreitet den Drogenkonsum im Knast und sieht daher auch keine Infektionsgefährdung von inhaftierten Junkies. Immer wieder hören wir von HIV-Infizierten quasi quer durch die Republik, daß sie im Strafvollzug unzureichend bis überhaupt nicht medizinisch versorgt werden. Wenn ein Anstaltsarzt im Durchschnitt für zirka 500 Gefangene zuständig ist, hat er einfach keine Zeit für HIV-positive Gefangene. In keinem Bundesland gibt es ärztlich betreute Methadonbehandlung. Der Justizvollzug beschränkt sich bei der Betreuung von HIV -Positiven auf seine offiziellen psychosozialen Dienste, die aber schon mit der normalen Arbeit hoffnungslos überlastet sind.
Michael Gähner: In Berlin hat man zwar im medizinischen Bereich vier neue Stellen geschaffen, aber die psychologische Betreuung ist nicht vorhanden. So gibt es zum Beispiel keine externen Mitarbeiter, die Selbsthilfegruppen für HIV-Positive anleiten und betreuen könnten. Die Berliner Aids-Hilfe kann mit der geringen Zahl vorhandener Stellen keine ausreichende Betreuung gewährleisten. Wenn man dann überlegt, daß die Aids-Hilfen die einzige externe Betreuung für HIV-positive und aidskranke Gefangene anbieten, kann man sich denken, daß es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist.
Was muß eurer Meinung nach geschehen, um diese Zustände zu beenden?
Ingo Michels: Eine zentrale Forderung der Deutschen Aids -Hilfe zur Aidsprävention im Knast ist die Verfügbarkeit von sterilen Einwegspritzen und Kondomen. Für sofort erforderlich halten wir zudem die Gewährleistung einer kontinuierlichen externen Aidsaufklärung, Beratung und Betreuung für Infektionsgefährdete und Menschen mit HIV und Aids im Knast. Desweiteren fordern wir die ausreichende medizinische Versorgung der Gefangenen, so zum Beispiel auch die Ausführung zu externen Fachärzten. Für dringend geboten halten wir das Angebot der Methadonbehandlung innerhalb und außerhalb des Strafvollzugs im Einzelfall und die Weiterführung bestehender Methadonbehandlung bei Inhaftierung. Die Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung bei entzugs- und therapiewilligen Gefangenen muß deutlich verstärkt praktiziert werden. Vor allem aber fordern wir die offensive Ausschöpfung der Möglichkeit der Strafaussetzung und Entlassung aus der Haft. Wir erwarten vom neuen Berliner Senat ein Sofortprogramm zur Bewältigung der durch Aids im Strafvollzug neuentstandenen Probleme.
Interview: Till Meyer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen