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Summertime Blues

■ Morgen heißt es wieder: eine Stunde früher aufstehen / Wer macht überhaupt die Zeit? / Von Ulli Kulke

Diesmal ist die Umstellung auf die Sommerzeit auch politisch - in der Sowjetunion. Wenn die BürgerInnen der baltischen Republiken morgen früh aufwachen, dann sind sie endlich zeitunabhängig von Moskau. Die Zentralregierung hat den Beschwerden der Bevölkerung nachgegeben, die im Sommer nicht mehr im Finstern aufstehen mochten. Bisher waren die Balten

-obwohl viel weiter westlich wohnend - an die Moskauer Zeit angekoppelt. In Zukunft sind sie nur noch eine Stunde von Mitteleuropa getrennt.

Nicht nur der ohnedies vielbeschäftigte Osterhase, auch die große Gemeinde der Nachtschwärmer und Langschläfer wird am morgigen Ostersonntag stöhnen, daß die Nacht eine Stunde kürzer gewesen ist. Wer aber denkt an die vielen hundert Techniker und Uhrenaufseher der Bundesbahn, die mitten in der Nacht um 2.00 Uhr das exekutieren müssen, was im Volksmund schlicht Sommerzeit heißt, gleichwohl natürlich eine amtliche Verordnung des Duos Bundeskanzler und Bundesinnenminister ist und ihrerseits auf dem Paragraphen 3 des Bundeszeitgesetzes (kurz: ZeitG) ganz rechtmäßig basiert?

Beileibe nicht alle Uhren werden morgen früh vorgestellt, in abgelegenen Gebieten dürfte so manche überholte Normaluhr -Zeit noch zu Pfingsten für Verwirrung sorgen. Die minutiös eingestellte (und dennoch oft verspätete) Bundesbahn kann sich derlei Schlampereien nicht leisten, deshalb die Umtriebigkeit auf den Bahnsteigen der Republik heute nacht.

Dabei müssen bei weitem nicht alle 86.500 Uhren von Hand weitergestellt werden. Gerade das Beispiel Bundesbahn zeigt nämlich, wie sehr die Zeit heute ein gigantisches elektronisches Netz ist - und wie wenig autonom die einzelne Uhr heute ist. Bis auf wenige tausend der bahneigenen Uhren hängen alle „on line“ an der Mutteruhr der jeweiligen Bundesbahndirektion, d.h. ihre Umstellung erfolgt automatisch oder - 60 Minuten nach Ende der mitteleuropäischen Geisterstunde - wie von Geisterhand gesteuert. Die Mutteruhren wiederum hängen allesamt an einer zentralen Uhr - quasi der Großmutter.

Selbstverständlich können nicht gleichzeitig die 600 bis 700 Züge, die morgen nacht um 2.00 Uhr unterwegs sein werden, um runde 120 Kilometer vorgerückt werden, so daß es zu planmäßigen Verspätungen von einer Stunde kommen wird. Bei der Rückumstellung im September fällt der Bundesbahn auch nach neun Jahren Sommerzeit noch nichts Klügeres ein, als die Züge eine Stunde lang auf dem Bahnhof festzuhalten. Die Reisenden fallen hier quasi in ein Zeitloch, obwohl sich dann doch eigentlich zwei gleiche Stunden hintereinander auftürmen - ein Paradoxon zwischen Bahn und Zeit.

Wer aber produziert die Zeit, die durch so viele elektronische Kanäle so viele Uhren steuert? Für den Otto -Normal-Zeitverbraucher“ ist die einschlägige Ansage der Bundespost das höchste der Vorstellungskraft. Insgesamt 3.845.805mal wurde sie im vergangenen Jahr angerufen. In Hamburg, Berlin und Düsseldorf läuft jeweils eine Magnetplatte mit der allen bekannten Stimme. Jene Frau, die mit dieser Stimme im Jahre 1958 einen ganzen Tag in Zehnsekundenschritten auf die Platte gebannt hat, lebt heute in Hamburg und will von der ganzen Sache nichts mehr wissen. Was sie davon hält, daß ihre so unmenschlich digital klingende Ansage inzwischen auch für den telefonischen Weckdienst mißbraucht wird und das verständnisvolle Fräulein vom Amt verdrängt hat, ist daher nicht zu ermitteln.

Selbstverständlich muß die „Eiserne Jungfrau“, wie sie im Postlerjargon heißt, jetzt nicht jeweils zum Beginn und Ende der Sommerzeit nächtens reaktiviert werden, um den Übergang reibungslos zu gestalten. Hier bewährt sich einmal mehr die doppelte und dreifache Redundanz der bundesdeutschen Zeitindustrie. Abgesehen davon, daß alle drei Zeit-Postämter im Notfall zusammengeschaltet werden können, läuft nämlich parallel zur einer Magnetplatte jeweils noch eine Reserveplatte. Und da muß irgendwann heute abend der Techniker vom Dienst einfach bei der Reserveplatte den Tonarm um eine Stunde vorschieben. Um zwei Uhr wird dann von der Haupt- auf den Reservetonträger umgeschaltet, und schon ist die Kohl/Zimmermannsche Verordnung ausgeführt.

Aber ist dieser Mensch mit dem zweifelsfrei verantwortungsvollen Posten damit der Zeitmacher, der mitten in der Nacht ein riesiges Rad, an dem so viel Gewichtiges zwischen Flensburg und Berchtesgaden hängt, einfach vordreht, um dann, von allen bewundert, in seiner Stammkneipe sein verdientes Bier zu trinken? Wohl kaum.

Vielmehr ist auch die Zeitmaschine dem Rechtsstaat unterworfen. Paragraph 2 ZeitG legt diesbezüglich fest: „Die gesetzliche Zeit wird von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt dargestellt“, und diese PTB hat ihren Sitz in Braunschweig.

Hier stehen sie, die zwei Atomuhren, etwa so groß wie Werkbänke in einer Schreinerei und mit einer großen Rolle obenauf, die die so spannenden „Zeitprotokolle“ festhält. Wie bei so manchem, was aus Atom besteht, stellen ihre Besitzer auch hier gewagte Behauptungen auf, die auf die Schnelle kaum jemand falsifizieren oder verifizieren könnte: „Beide Uhren würden sich nach einer Million Jahren um höchstens eine Sekunde in der Zeitangabe unterscheiden“, heißt es in einer Broschüre.

Eines indes stimmt sicher: Die deutsche Zeit gilt etwas auf der Welt. Vier führende Uhren (in Japan, Kanada, USA und Braunschweig) schicken einmal im Monat ihre Zeitprotokolle an das „Büro für die Zeit“ in Paris (Bureau International de l‘ Heure). Das Büro setzt daraus die genaue Weltzeit zusammen und bringt sie auf den neuesten Stand. Von all diesen Uhren nun haben die PTB-Uhren die größte statistische Gewichtung - nicht zuletzt deshalb, weil die anderen Uhren in den letzten Jahren schon mal schlicht stehengeblieben sind. „Eigentlich machen wir hier die Zeit“, freut sich daher PTB-Sprecher Klages nicht ganz zu Unrecht. Damit das auch so bleibt, ist inzwischen eine dritte Atomuhr für dreifache Zeitsicherheit bestellt.

Doch was bringt's? Nicht einmal ölen kann man die Apparate heutzutage noch. Höchstens der Mann, der die erste Uhr mit einem Knopfdruck vor nunmehr 20 Jahren in Gang brachte, hätte durch eine Verzögerung von einer Millionstel Sekunde ein wenig am Lauf der Zeit drehen können. Seither gilt international vereinbart: „Die Sekunde ist das 9.192.631.770fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes des Atoms des Nuklids 133 CS entsprechenden Strahlung“ - Punktum.

Wer die Strahlung gerade nicht ausmachen kann oder wessen Taschenrechner nicht so viele Stellen ausweist, um seine Uhr darauf einzustellen, der kann sich dennoch an die Atomzeit anbinden. Er muß sich nur ein Empfangsgerät kaufen, das die codierten Signale empfängt, die von der PTB über ihren Sender Mainflingen südöstlich von Frankfurt ausgestrahlt werden. Die Codierung ist dabei ganz unspektakulär schon jetzt für die Zeit nach heute nacht 2.00 Uhr umprogrammiert. Die Bundesbahn und die Zeitansage der Post haben die Empfangsgeräte schon, viele andere auch. Ob es schon Hähne unter den glücklichen Besitzern gibt, werden wir und der Osterhase morgen früh feststellen können.

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