: Wissenschaft und Technik: Schöne neue Welt
Genetische Untersuchungen an lebenden, menschlichen Reagenzglas-Embryonen sollen zukünftig verschiedene pränatale Diagnosen an Schwangeren ersetzen. Englischen Wissenschaftlern ist es gelungen, im Reagenzglas erzeugte, drei Tage alte Embryonen genetisch zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde jeweils eine Zelle von dreißig Embryonen so entfernt, daß die übrigen fünf bis neun Zellen der Embryonen intakt blieben und sich weiterentwickelten. Die DNS jeder so gewonnenen Zelle wurde mit einer neuen „Gen-Amplifizierungs“ -Methode stark vervielfacht, damit das genetische Material ausreichte, um Geschlecht und einige Erbkrankheiten der Embryonen zu bestimmen. Künftig, hoffen die Forscher, können Eltern von Reagenzglas-Embryonen ihre Sprößlinge gleich im Reagenzglas untersuchen lassen. „Defekte“ Nachkommen werden gar nicht erst eingepflanzt. „Das würde die Nachfrage nach künstlicher Befruchtung steigern“, kommentierte der Genetiker Suheil Muasher, der eine führende Klinik für Reagenzglas-Befruchtung in den USA leitet. Nicht nur Paare mit Fruchtbarkeitsproblemen, die heute die wichtigsten Kandidaten für künstliche Befruchtung sind, sondern auch Paare, die ein erhöhtes Risiko haben, Erbkrankheiten an ihre Kinder weiterzugeben, werden ihre Zöglinge zukünftig lieber im Reagenzglas zeugen. So kann die zukünftige Mutter pränatale genetische Untersuchungen wie Amniozentese und, wenn tatsächlich Schäden am Embryo festgestellt werden, eine Abtreibung umgehen. Muasher warnte jedoch, die Methode der englischen Kollegen müsse erst in Tierversuchen gründlich auf ihre Sicherheit untersucht werden, bevor sie kommerziell - angewendet werden kann. Die Engländer wollen jedoch schon innerhalb der nächsten zwei Monate damit beginnen, ihre genetisch getesteten Embryonen in die Gebärmutter der Eispenderinnen wieder einzusetzen. Versuchsleiter Alan Handyside vom Hammersmith Hospital in London dazu: „Menschliche Embryonen entwickeln sich auch dann normal, wenn sogar zwei oder drei ihrer Zellen entfernt werden. Wir sind uns deshalb einigermaßen (!) sicher, daß die Entfernung einer Zelle in diesem frühen Stadium keine besonderen Schäden hervorruft.“ Handyside und Kollegen sowie dreißig getestete Embryonen müssen noch die Genehmigung eines Ethikkomitees abwarten, bevor das Experiment mit der Einpflanzung der Embryonen fortgeführt werden kann. Über die Möglichkeiten des Mißbrauchs dieses neuen Verfahrens der Reproduktionstechnologie haben sich die Gendoktoren bisher nicht geäußert. Dabei ist unübersehbar, daß die genetische Untersuchung von lebenden Reagenzglas-Embryonen ein weiteres Werkzeug ist, mit dem die menschliche Fortpflanzung technologisch dirigiert werden kann. Die Entscheidung, ein Reagenzglas-Embryo mit „Defekt“ in den Mülleimer wandern zu lassen, ist bestimmt einfacher, als im dritten Monat einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Die Gefahr besteht, daß abweichende genetische Veranlagungen zu schnell als „Defekte“ empfunden und ausgemerzt werden. Eine neue Art der Eugenik auf gentechnischer Basis wäre die Folge. Eine kürzlich von der 'New York Times‘ durchgeführte Umfrage unter Genetikern, die pränatale Gendiagnosen durchfähren, zeigt bereits einen Trend in diese Richtung. Eine zunehmende Anzahl amerikanischer Frauen, so die Genetiker, treiben nach der Amniozentese ab, weil der Fötus nicht das gewünschte Geschlecht hat. Genetische Tests an Reagenzglas-Embryonen könnten für diesen Zweck leicht mißbraucht werden. Lancet, New York Times
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