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Abfahrt nach Irrsinn von Gleis 29

■ Der neue Film „Track 29“ von Nicolas Roeg zeigt die Realität wieder als eine der 57 Variationen der Imagination / Amerikanischer Alptraum als Verwirrspiel

Linda und Henry Henry sind ein amerikanisches Ehepaar, wie es sich nur ein englischer Drehbuchautor (Dennis Potter) ausdenken kann. Henry ist Arzt und ein besessener Modell -Eisenbahnbastler, den außer seiner gigantischen Anlage nur noch eine sadistische Krankenschwester interessiert. Linda hat zwar jede Menge Puppen, mit denen sie redet, und den ewig spielenden Fernseher, in dem die Zeichentrick- und Spielfilme ihre Stimmungen und Aktionen genau widerspiegeln. Aber sie sehnt sich verzweifelt aus dieser Leere heraus, nach einem Kind oder einem Mann. Und plötzlich taucht Martin auf - ein rätselhafter Engländer, der vorgibt, ihr Sohn zu sein. Tatsächlich hatte sie, nachdem sie mit fünfzehn Jahren auf einm Jahrmarkt vergewaltigt worden war, einen Jungen zur Welt gebracht, der ihr sofort nach der Geburt weggenommen und nach England geschickt wurde. Martin, der jetzt erwachsen ist, könnte so zugleich ihr Baby und ihr Geliebter sein. Martin ist die Erfühlung ihrer Träume, aber existiert er überhaupt? Zuerst ist er ganz real, auf der Leinwand zu sehen, wie alle anderen Figuren auch aber dann verschwindet er plötzlich, und taucht wie ein Phantom nur auf,

weil Linda mit ihm spielt oder spricht. Wenn wir eben noch die beiden im Restaurant reden gesehen haben, scheint es jetzt aus der Position des Kellners heraus so, als säße sie alleine am Tisch und spräche ins Nichts hinein. Solche Risse werden immer häufiger - Realität und Traum werden zu einem irritierenden Verwirrspiel, in dem nichts mehr einfach st.

So ist auch die Modelleisenbahn erst ein riesiges, schönes Spielzeug, dann für Henry eine Droge, die ihn besessen macht, und für Linda ein übermächtiger Rivale, weshalb Martin mit teuflischem Vergnügen die Züge gegeneinanderkrachen, die Papmaschegebirge durchtreten und die computergesteuerte Elektronik durchbrennen lassen darf.

Zu seinem ähnlich verwirrenden Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ erklärte Nicolas Roeg, die Realität sei für ihn nur eine der 57 Variationen der Imagination. Man kann sich wirklich erschrecken in „Track 29“, man kann wie bei einer Denkaufgabe versuchen, alle Verwirrspiele zu durchschauen, man kann aber auch lachen. Über Henry etwa, der auf einer Konvention von Spielzeugeisenbahn-Fanatikern eine völlig hirnrissige Rede hält, und dafür triumphal gefeiert

wird. So grotesk, wie die Figuren handeln, werden sie auch von den Schauspielern verkörpert. Mit Gary Oldman als Martin, Christopher Loyd als Dr. Henry und Sandra Bernhard als Schwester Stein hat Roeg Charakterdarsteller eingesetzt, die auf exzentrische Rollen abonniert sind. Aber seine Frau Theresa Russel als Linda Henry ist eine überraschende Besetzung. Und das muß eine sehr gute und stabile Ehe sein, den es gehört schon einiges dazu, eine schöne Frau so häßlich, linkisch und infantil zu machen. Aber trotz Zahnspange, Grimassen, fast spastischen Bewegungen und einer enervierend schrillen Stimme (die man in der synchronisierten Fassung natürlich wieder verpaßt) wünscht man Linda nicht nach zehn Minuten zum Teufel, sie ist die einzige Person im Film, die real wirkt und uns berührt. Und in den letzten Szenen, nachdem sie sich von ihrem amerikanischen Alptraum befreit hat, ist sie plötzlich viel schöner und würdiger. Auch dies ist also eine von Roegs Irritationen in einem Film, wo nichts so ist wie es scheint, und auch zum Schluß der Zuschauer nur eines genau weiß: daß er sich gut unterhalten hat.

Wilfried Hippen

Cinema 21.00 Uhr

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