VON FOTOGRAFIEN

 ■  Ein Hund, zwei Welten

Mit einem Staatsakt in Frankreich begann vor 150 Jahren die Geschichte der populären Fotografie.

Im Schnellschritt vor sich auf die Straße zu sehen, ist eine Eigenart der Städter. Die Abschottung funktioniert wie in Kindertagen: Wenn ich niemanden sehe, werde ich auch nicht gesehen. Gegrüßt. Aufgehalten. Der Tag ist eingeteilt und die Welt. Es gibt nichts mehr zu entdecken. Auch geographisch: die Nationen sehen, von Satelliten, steil auf die Erde herab. Dem Städter in den Nacken. Der wiederum macht seine Entdeckungen. Zum Beispiel: so einen Hund.

Nur, wie Jean-Christophe Pigozzi den Hund fotografiert hat, kann man ihn nicht sehen. Nie würde unser Auge den Kopf des Hundes als so nah, den Körper und die Pfoten als so fern empfinden. Das macht das Blitzlicht, dessen enorme Lichtmenge es dem Fotografen erlaubt, die Blende seiner Kamera weit zu schließen. Deshalb reicht die Schärfe bis in die volle Tiefe des Bildes, während der krasse Lichtabfall die Ebenen des Bildes trennt: der Hund ist Vorder- und Hintergrund. Wir glauben aber nicht, zwei Objekte zu sehen, sondern folgen dem Körper des Hundes - als sei er eine Spirale - gegen den Uhrzeigersinn. So setzen wir uns den Hund zusammen, den die Kamera nie gesehen hat.

Wie das Bild funktioniert, können wir uns weitgehend vorstellen, auch wenn wir nicht wissen, wie die Kamera funktioniert. Denn, wo es dunkel ist, glaubt niemand, daß dort nichts sei. Wir deuten uns Perspektiven und wir deuten den Schatten. Ganze Comic-Serien leben davon.

Wie schwer sich dennoch ein Bild einstellt, wenn man vom Gegenstand keine ausgeprägte Vorstellung hat, wird deutlich am Ohr, das dem Betrachter zugewandt ist. Wie groß ist eigentlich dieses Ohr, wie ist es gefaltet, wo genau hört es auf? Ein Hundekenner würde das sehen, genau wie er auch Antwort geben könnte, ob die Pfote links des Bildzentrums notwendig die rechte Vorderpfote des Hundes ist und die unterhalb des Auges seine linke.

Das Auge ist die eigentliche Sensation des Bildes. Übrigens hat der Blitz seinen Teil dazu getan, den Eindruck zu erwecken, es sei nur das eine Auge, das uns ansieht. Auf das andere Auge, sein rechtes, fällt, von der wulstigen Braue her, ein Schatten. Dennoch typisch Hund. Diese zwei Welten, in denen er lebt, rechts und links. Man kann ihn frontal ansehen, aber schnell weicht er dem menschlichen Blick aus. Sein Blickfeld ist eines der Jagd, der Taktik, der Situation, der Bewegung. Er sieht das Ziel und er braucht kein Bild.

Umso merkwürdiger, wenn uns dieses Auge so aufmerksam ansieht. So starr und klar, aus der Mitte heraus, wie das Auge der Kamera. Auch erscheint der Reflex des Blitzlichts in seiner Pupille wie eine weit geschlossene Blende. Dabei können wir nicht nur sicher sein, daß er uns nicht sieht (weil es nunmal nur ein Foto ist), sondern auch, daß er die Kamera, den Fotografen dahinter, nicht sah, als das Bild (als latentes) entstand: Er war total geblendet.

Ulf Erdmann Ziegler

Jean-Christophe Pigozzi, o.T., aus: Album Photographique 1, Centre Georges Pompidou, o.J.