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Für alle Sonderbaren

■ „Der Idiot“ von F.M. Dostojewski unter der Regie von Wilfried Minks in Hamburg

„Man wird nach einem Dostojewski-Abend nicht nach Hause gehen und sagen, ich weiß jetzt, was das Gute ist“, meinte Wilfried Minks vorbeugend vor der Premiere. Nach seinem Dostojewski-Abend, seiner Inszenierung nach dem Roman Der Idiot, aber weiß man zumindest, was gutes Theater sein kann. Und ich gebe zu, ich bin seinem „Idioten“, Roland Renner als Fürst Myschkin, schon in den ersten Minuten verfallen.

Im gelben Sommermäntelchen betritt er die Bühne, eine zarte Gestalt, jung-alt das Gesicht. Er habe am Veitstanz, an der Fallsucht gelitten, erzählt er dem starken, dunklen, in schwere vielfarbige Pelze gehüllten Rogoschin, und jetzt sei er zurück aus der Schweiz, nicht mehr krank, aber auch nicht geheilt. Rogoschin vertraut ihm sogleich seine Liebe zur schönen Nastasja Filipinowna an, die von ihrem Adoptivvater Tozkij mißbraucht wurde und jetzt verheiratet werden soll. Nur ihm kann er sich öffnen, denn Myschkin hört zu, intensiv und arglos wie ein Kind, voller Mitleid, und er sagt immer die Wahrheit, hellsichtig und zutiefst freundlich. Ein helles Licht scheint von ihm auszugehen, in dem alle, denen er begegnet, sich sonnen können: der bombastische General (Gerhard Olschewski), seine Frau, eine rosa Figurine mit riesigen Puffärmeln, eine „Närrin mit Herz und ohne Verstand“ (Marlen Diekhoff), die ihn wissen läßt, sie sei nicht so dumm, wie sie scheine, und deren drei kostbar gewandete Töchter, die über ihn lachen und zugleich angerührt werden, wenn Myschkin in ihren Gesichtern liest.

Regisseur Minks macht diese durchscheinende, fragile Figur mit der Grazie eines Kanarienvogels im gelbgrünkarierten Anzug zum ungewollten Zentrum verschiedener, sich überschneidender Kreise: Neben Rogoschin, seinen grobschlächtigen Kumpanen und der bunt-preziösen Familie des Generals Jepantschin ist da noch Ganja, der Sohn eines anderen, verarmten Generals. Er soll für 75.000 Rubel Nastasja Filippinowna heiraten, die Familie sitzt ihm imim Nacken, er ist hin- und hergerissen zwischen der Schande und nackter Geldgier. Fürst Myschkin bringt die kleinen schäbigen Geschäfte, durch die diese drei Figurationen um Nastasja zusamengehalten werden, zum Platzen, als er die Schöne - klein und zierlich, mit flammendrotem Haar (Ilse Ritter) - schließlich trifft. Dadurch, daß er den Schacher um sie anprangert und ihr anbietet, für sie zu sorgen, denn endlich einmal müsse jemand sehr sorgsam mit ihr umgehen, ändert sich alles - und zugleich nichts.

In ungeheurem Tempo bringt Minks die Verhältnisse im russischen Bilderbogen zum Tanzen: Nastasja wird nicht Ganja heiraten, den Durchschnittsmenschen, dessen quergestreifter Anzug ihm wie ein kleines Privatgefängnis den Leib verhüllt. Sie wird aber auch nicht frei werden, sondern pendelt zwischen Myschkin und Rogoschin, verdammt in ihrem Schuldgefühl, getrieben, beide zu quälen, bis Rogoschin sie erdolcht. Der „heilige Narr“ Myschkin wird zum Gefangenen seiner eigenen Wahrheit. All die kleinen Wärmeströme, die er aussendet, kehren zu ihm zurück als immer größerer Druck auf seine eigene fragile Balance, weil niemand seine Wahrheit wirklich erträgt. Am Ende liegt Nastasja zwischen den beiden Männern, mit deren Freundschaft das Spiel begann, - tot, eingewickelt in „gutes amerikanisches Wachstuch„; Rogoschin befürchtet, sie könne riechen, und Myschkin, zitternd, weiß: Wenn das Herz direkt getroffen wird, fließt nur wenig Blut.

Ein Roman von fast 900 Seiten wurde zu rasantem Theater, ebenso leichtfüßig und komisch wie schmerzlich und anrührend. Nicht zuletzt trägt dazu die von Minks selbst entworfene Bühne bei: Zwei riesige auf- und abschwebende Manuskriptseiten teilen Spielräume ab, und der ganze Raum wird beherrscht von der gewaltigen Skulptur einer metallenen Raubkatze, in die sich zwei Wölfe verbissen haben. Ausgearbeitet sind dabei nur die Köpfe mit den Reißzähnen, eine mächtige Pranke und wenige Fragmente des Körpers. Alles übrige besteht aus Eisenstangen, die den Umriß eines Skeletts andeuten.

Wechselndes Licht läßt diese Plastik mal bedrohlich schillern, mal scheinen die Tierköpfe über die kleinen Machenschaften auf der Bühne zu lachen, dann wieder grinsen sie höhnisch, und keinen Augeblick lang können die ZuschauerInnen sicher sein, daß nicht im nächsten Moment etwas Fremdes, Gefährliches in die Szenerie einbricht. Wenn das Licht, das vom Fürsten Myschkin in seiner arglos -kindlichen Offenheit ausgeht, die Bahn aller anderen zu ändern scheint wie die von bunten Billardkugeln, dann findet es seinen Gegenpart und wird gebrochen in den stählernen Fratzen der Raubtiere. Dadurch entsteht eine Spannung, die alle Mitspieler immer noch um ein wenig sonderbarer, exaltierter, ver-rückter erscheinen läßt, als Minks sie ohnehin schon mit leichter Hand präsentiert.

Der versoffene Vater des quergestreiften Ganja beklagt das „Zeitalter der Laster und der Eisenbahnen“, und Karl Valentin selbst scheint auferstanden zu sein, mit schlenkernden Gliedmaßen und Geschichten, in die er sich hoffnungslos verheddert wie die vom Bologneser Hündchen, das er aus dem Fenster eines Zuges warf. Die rosafarbene Generalin scheint einem absurden Karneval entsprungen, wenn sie plötzlich im breiten Reifrock Nihilismus und Emanzipationslust ihrer Töchter als das Übel der Welt verflucht. Myschkin selbst, der Narr mit der Kinderseele, wird zum Bruder von Hollywoods erstem Oscar-gekrönten Autisten, dem Rain Man Dustin Hoffmans, wenn er mitteilt, eine ausgezeichnete Handschrift zu haben. Beide verwischen die Grenze zwischen Wahn und scheinbarer Normalität, nicht indem sie sie überschreiten, sondern weil sie sie vergessen machen.

Ingeborg Bachmann schrieb für eine Ballettfassung von Dostojewskis Idiot: „Bürgschaft übernehm ich für einen, der auf dieser Welt lebte vor langer Zeit und als sonderbar galt.“ Wilfried Minks und sein Ensemble haben diese Bürgschaft eingelöst, für einen, der jetzt auf dieser Welt lebt, für alle Sonderbaren.

Lore Kleinert

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