: Ausnahmezustand in Tiflis
■ Bewaffnete Patrouillen und Schützenpanzer kontrollieren Georgiens Hauptstadt / Opposition spricht von 150 toten DemonstrantInnen / Betriebe bestreikt
Moskau (dpa/ap/taz) - Mit Ausgangssperren, bewaffneten Patrouillen und dem Aufmarsch von Schützenpanzern vor den wichtigsten Gebäuden der Stadt versucht das sowjetische Innenministerium die Kontrolle über die georgische Hauptstadt Tiflis aufrechtzuerhalten. Gestern nachmittag lösten Soldaten unter Einsatz von Knüppeln eine Versammlung von Tausenden von Jugendlichen in der Nähe der Universität auf. Für ausländische Journalisten wurde die Sowjetrepublik Georgien gesperrt. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse, der kurzfristig einen Besuch in Ost-Berlin abgesagt hat, ist gestern zu Krisengesprächen mit der georgischen Parteiführung nach Tiflis gereist.
In Moskau treffen immer mehr Berichte über das äußerst brutale Vorgehen der Sondertruppen des Innenministeriums am Wochenende ein, die eine Demonstration für mehr Unabhängigkeit von der Sowjetunion und der vollständigen Eingliederung der Autonomen Abchasischen Sowjetrepublik (vgl. Kasten S.6) aufgelöst hatten. Nach Angaben der verbotenen „Nationaldemokratischen Partei Georgiens“ sollen in Tiflis nicht nur 16, wie offiziell verkündet wird, sondern bis zu 150 DemonstrantInnen ihren Verletzungen erlegen sein. Begleitet von vier Panzern und Schützenpanzern seien Milizionäre gegen die Menschen vorgegangen. Die Formation sei mit Schlagstöcken und Spaten bewaffnet gewesen. Die georgische Miliz wurde entwaffnet. Sie habe aber dennoch versucht, die Menschen vor den anrückenden Sicherheitstruppen zu schützen. „Sie gingen nicht wie Menschen vor, sondern wie Tiere“, berichtete ein Informant aus Tiflis. Viele Tote wiesen Spuren von Spatenschlägen am Kopf auf. Krankenschwestern aus dem Zentralen Krankenhaus in Tiflis berichteten von einer schwangeren Frau, die nach Spatenschlägen auf den Kopf ihren Verletzungen erlegen war.
In vielen Betrieben von Tiflis und anderen Teilen Georgiens wird gestreikt, der Nahverkehr ruht. An allen Häusern der Hauptstadt hängen als Zeichen nationaler Trauer schwarze Fahnen. Die Miliz verhaftete Führer und Mitglieder georgischer Organisationen, unter ihnen Irina Sarischwili, Georgij Taschanturija, Swiad Gamsachurdija und Merab Kostawa. „Die Menschen seien erschüttert und verbittert über das Vorgehen der Sicherheitskräfte und über die Rechtfertigung des Truppeneinsatzes vom Sonntag abend“, bewertete ein einheimischer Journalist die Lage. In einer 'Tass'-Meldung, die im Fernsehen verlesen wurde, hatten die Fortsetzung auf Seite 2
Kommentar auf Seite 4
Behörden die DemonstrantInnen für die Toten verantwortlich gemacht. In einem von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow unterzeichneten Erlaß vom vergangenen Samstag werden die „Diskreditierung höchster sowjetischer Staats und Regierungsorgane“ sowie „Aufrufe zum Sturz der sowjetischen Staats
und Gesellschaftsordnung“ mit Haftstrafen von drei Jahren oder einer Geldbuße von 2.000 Rubel (6.000 Mark) geahndet. Das Dekret trat sofort in Kraft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen