: Fernsehen als „Vatermedium“
■ MedienwissenschaftlerInnen diskutieren über die sozialen Auswirkungen von Kabelfernsehen / Reparaturarbeiten an der medialen Zweidrittelgesesellschaft gefordert
Herr E. ist 34 Jahre alt, hat Realschulabschluß und arbeitet als Koch in einem Jugendausbildungszentrum. Mit seiner Frau und seinem elfjährigen Sohn wohnt er in einer Hochhaussiedlung am Berliner Stadtrand. Außerhalb der Wohnung geht Herr E. vielfältigen Interessen nach, wobei der Fußball an erster Stelle steht. Außerdem sammelt er leidenschaftlich Platten; nie versäumt er ein Konzert von seinem Lieblingssänger Joe Cocker. Kommt Herr E. nach Hause, wandelt sich das Bild vom aktiven Mann abruppt. Noch ehe er die Schuhe ausgezogen hat, rennt er zum Fernseher und knipst ihn an. „Das geht ganz automatisch, ob man nun hinguckt oder nicht. Das kann noch so ein blödes Programm sein. Aber er ist an. Er flackert.“ Bis zur Schlafenszeit „muß“ der Fernseher laufen. Sogar auf seinen Sohn hat die Sucht nach Fernsehen schon abgefärbt. Sein erster Weg nach dem Aufwachen führt zum Videorekorder. Die Mutter, die sich hin und wieder nach einem Gespräch sehnt, hat resigniert. Denn seit die Familie einen Kabelanschluß hat, ist der Fernsehkonsum von Herrn E. noch gestiegen. „Das ist erst durch das Kabel gekommen, daß man schon mittags fernsehen kann.“
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht gehört Herr E. zur Spezies der „Vielseher“. Als Vielseher wird bezeichnet, wer mindestens drei Stunden am Tag vor der Glotze sitzt. Besonders häufig sind die Vielseher unter den Anhängern privater Programme vertreten. Gegenüber den Nutzern überwiegend öffentlich-rechtlicher Programme und einer Gruppe von gemischt orientierten Fernsehzuschauern machen sie rund 30 Prozent der Kabelfernsehnutzer aus. Weitere Merkmale dieses „Problemdrittels“: Geringes Bildungsniveau, ein einseitiges Faible für unterhaltende Spielfilme und Serien zu Lasten von Informationssendungen sowie ein „sozial blockierter Lebenshintergrund“. Hoher Fernsehkonsum geht hier mit einer wenig entwickelten Kommunikaitonsfähigkeit einher.
Entdeckt hat diese Problemgruppe innerhalb der medialen Zweidrittelgesellschaft ein ForscherInnenteam der Evangelischen Kirche. Im Rahmen der Begleitforschung zum Berliner Kabelpilotprojekt untersuchte es drei Jahre lang die Auswirkungen des (Kabel-)Fernsehens auf die Zuschauer. Gleichzeitig erprobte es medienpädagogische Unterrichtskonzepte für Kinder und Jugendliche. Auf einem Symposium der Evangelischen Kirche zum Thema „Kabelfernsehen und soziale Beziehungen“ in Berlin, wurde die Studie am vergangenen Wochenende im Rahmen einer Bilanz der Begleitforschungen aus allen vier Kabelpilotprojekten vorgestellt.
Das Fazit der Studie läßt sich auf einfache Formel bringen: Durch die Programmvermehrung entsteht kein grundsätzlich anderes Fernsehverhalten. Jedoch werden bereits vorhandene Nutzungsmuster verstärkt: Die Zuschauer, die schon immer wenig fernsehen und sich ihre Programme gezielt ausgewählt haben, tun dies auch weiterhin. Zuschauer mit hohem Fernsehkonsum sehen jetzt noch mehr fern. Das Fernsehangebot allein bewirkt kein problematisches Fernsehverhalten; vielmehr ist die Lebenssituation des Einzelnen entscheidend. Das Beispiel von Herrn E. zeigt, daß der entscheidene, das Fernsehverhalten bestimmende Faktor bereits die biographische Prägung ist: Familiäre Gemeinsamkeit war schon in seiner Kindheit überwiegend über das gemeinsame Fernsehen mit den Eltern definiert. Gespräche und Auseinandersetzungen im Familienzusammenhang hat Herr E. nicht „gelernt“. Ergo: Die Kompetenz für einen bewußten Umgang mit sich, mit anderen Menschen und den Medien muß bereits in der Kindheit vermittelt werden.
Christoph Bruns, der in dem Projekt den theologischen Part übernommen hatte, war dem Auditorium zunächst verdächtig, in bezug auf die Medien ein Anhänger der „Verteufelungstheorie“ zu sein. Dabei hatte Bruns ein wichtiges Argument auf seiner Seite: Menschen, die der Kirche verbunden sind, sehen weniger fern. Der „Versuchung“ des Vielsehens erliegen, das ergab die Studie, hier nur neun Prozentz. Bruns führte dies unter anderem auf die überragende Bedeutung der personalen Kommunikation in der kirchlichen Gemeindearbeit zurück.
So manches von dem, was die KommunikationsspezialistInnen an sorgsam gesammeltem Datenmaterial vortrugen, hatte man sich ja schon fast gedacht. Beispielsweise daß das Lesen von Büchern als Freizeitbeschäftigung zunehmend vom Fernsehen verdrängt wird. Die Dortmunder Begleitforscherin Bettina Hurrelmann entlarvte das Fernsehen als „Vatermedium“. Als sozialer Focus verfestige es die traditionelle Hackordnung in der Familie: Vor dem Bildschirm habe der Vater das Sagen, die Mutter müsse wie immer vermittelnd wirken, während dem Kind als letztem in der Reihe nur bliebe, sich unterzuordnen.
Barbara Mettler-Meibom, Professorin in Essen und prominente Verfechterin einer Kommunikationsökologie, forderte die drohende „Kommunikationskatastrophe“ mindestens so ernst zu nehmen wie das Ozonloch und das Waldsterben. Alle Schuld an der aus ihrer Sicht an erheblichen Kommunikationsdefiziten „erkrankten“ Gesellschaft gab sie einer „sozial und ethisch unverantwortlichen Medienpolitik“. Diese habe aus kommerziellen Motiven einseitig das Medienangebot gefördert, sich aber keinen Deut um mögliche soziale Folgen geschert. Gegen die negativen Folgen eines zunehmend bewußtloseren Medienkonsums, der die Menschen ihrer Erfahrungen und Selbstbestimmung beraube, forderte sie eine Gesellschaftspolitik, die sich der „Kommunikationsunterprivilegierten“ annimmt. Von der Medienpolitik forderte Mettler-Meibom Schadensbegrenzung und Reparaturmaßnahmen durch eine Medienpädagogik, die den Einzelnen zu einem verantwortlichen Umgang mit den Medien befähige.
„Wenn wir Reparaturwerkstatt sein wollen, brauchen wir mehr Mittel und Geld“, ertönte promt der Ruf der Medienpädagogen. „Medienpädagogik muß im Kindergarten beginnen“, klagte eine überforderte Grundschullehrerin von der „Front“. Die Hälfte ihrer SchülerInnen würden ihren Fernsehtag bereits morgens vor der Schule beginnen. Rainer Kabel, Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin und hauptamtlicher Medienforscher beim SFB, sah vor seinem geistigen Auge indes schon herrliche Zeiten anbrechen: Überschwenglich schwärmte er von den großen Chancen für eine „medienökologisch humane“ Gesellschaft als Konsequenz aus der rot-grünen Koalitionsvereinbarung.
Das heikelste Thema des Symposiums, die beklagenswerte Folgenlosigkeit der Forschungsmühen im Hinblick auf die Medienpolitik der Länder, wurde bis zum Schluß sorgsam umschifft. Als vor nunmehr 13 Jahren die noch unter der SPD -Regierung eingesetzte „Kommission für den technischen Ausbau des Kommunikationssystems“ (KtK) ergebnisoffene und rückholbare Pilotversuche empfahl, um Chancen und Risiken der Kabekommunikation zu ermitteln, schien für die Sozialwissenschaftler ein langgehegter Traum zunächst zum Greifen nah: Die Kabelpilotprojekte, die in Ludwigshafen, München, Dortmund und zuletzt in Berlin den Start in ein neues Medienzeitalter erproben sollten, hätten bei den Sozialwissenschaftlern Träume von großdimensionierten „Forschungsschiffen“ genährt, erinnerte sich Professor Wolfgang Langenbucher aus Wien. Mit Hilfe der Kabelpilotprojekte hätte sich die Sozialwissenschaft einen „Quantensprung“ nach vorn erhofft. Doch, so Langenbucher im Rückblick, seien die Schiffe bald auf Riff gelaufen. Die Begleitforschung, die ursprünglich relevante Ergebnisse für die soziale Verträglichkeit und politische Weichenstellung einer neuen Mediengesellschaft liefern sollte, sei zur bloßen Alibiforschung verkommen. Ohne die Ergebnisse aus den vier Versuchsinseln abzuwarten, hatten die Politiker die breite Einführung privat-kommerzieller Programme bereits beschlossen.
Philippe Ressing, wissenschaftlicher Medienarbeiter der Bundestagsfraktion der Grünen, konnte sich nicht enthalten, etwas im schlechten Gewissen der Medienforscher herumzustochern. Der „Befriedungsstrategie“ des Staates sei man damals auf den Leim gegangen, lautete sein Vorwurf. Die Sozialwissenschaft hätte sich für ein paar Mark zur Finanzierung ihrer Forschungsprojekte den Mut zum Risiko abkaufen lassen. Sie befände sich in dem klassischen Konflikt: „Wie scharf beiße ich in die Hand, die mich füttert?“
Beate Schulz
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