Risse im Vereinigten Königreich

Die schottischen Bestrebungen nach einer Verfassungsreform sind Reaktionen auf ein Versagen des alten zentralen Regimes / Ihr Scheitern würde den Rückfall in die Resignation der siebziger Jahre bedeuten, meint der Journalist und Buchautor Tom Nairn / Allerdings steht die Thatcher-Opposition in Schottland noch auf wackeligen Beinen  ■ I N T E R V I E W

Der Schotte Tom Nairn verfaßte das vielbeachtete Buch „The Break Up of Britain“, in dem er bereits 1977 auf die „Nationalitätsproblematik“ Großbritanniens hinwies - und das Aufbrechen des vereinigten Königreiches vorhersagte.

taz: Lassen Sie uns zunächst über das Verhältnis der Schotten zur Labour Party reden. Eine eindeutige Mehrheit der Schotten ist für die Unabhängigkeit - in der einen oder anderen Form - und wählt anschließend Labour, eine Partei, die zumindest in der Vergangenheit die Union mit England vertreten hat. Warum wählen die Schotten Labour und werfen der Partei dann anschließend mangelnden Nationalismus vor?

Tom Nairn: Dies ist ein normaler Widerspruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wie er in verschiedenen Formen auch anderswo anzutreffen ist. Historisch sind die Schotten von außen politisiert worden, durch die ihnen auferlegte Existenz im ursprünglichen imperialen, britischen Staat. Dieser sich über zwei Jahrhunderte hinziehende Prozeß war sehr erfolgreich, weil er nicht nur der herrschenden Klasse Schottlands, sondern allen Klassen materielle Vorteile einbrachte. In diesem Sinne ist Schottland in seinen politischen Reflexen sehr britisch, politisch sind die Schotten nach außen und nicht nach innen orientiert. Dies ist ein Problem für jeden Nationalismus, der ja die Leute zur Selbstbesinnung anleiten muß, ein Selbstbewußtsein in sich selbst und nicht in „die anderen“, die Briten erfordert. Wenn die Schotten wählen, dann steht die Labour -Party für dieses andere, das „Britisch-Sein“. Gleichzeitig ist allen bewußt, daß dies nicht so weiter gehen kann. Kaum einer glaubt noch an die Zukunft der Labour-Party als Macht und Autorität, an einen Wahlsieg Labours bei den nächsten oder gar übernächsten Wahlen.

Gibt es für diese Leute denn keine Alternative zur Labour?

Eben nicht, noch nicht. Deswegen tendieren die Schotten dazu, mit der Idee des Nationalismus zu spielen. Deswegen gibt es die kurzen Perioden eines euphorischen Nationalismus, wenn sich bei Meinungsumfragen eine überwältigende Mehrheit für die Unabhängigkeit ausspricht, was jedoch nur eine oberflächliche Mobilisierung der politischen Meinung darstellt. In solchen Fällen, bei Nachwahlen und 1974 - in der Euphorie über den angeblichen ökonomischen Segen des Nordseeöls - sogar bei den Parlamentswahlen, stimmen sie dann für die „Scottish National Party“ (SNP).

Was stimmt denn nicht an dieser SNP, wenn sie nur in Augenblicken der Euphorie eine Alternative darstellt?

Die SNP ist eine sehr seltsame nationale Bewegung. Der schottische Nationalismus ist auch kaum mit den nationalistischen Bewegungen in Nordirland, Spanien oder Osteuropa zu vergleichen, weil es dort viel brutalere Formen kolonialer und quasi-kolonialer Unterdrückung gegeben hat oder noch gibt - als in Schottland. Die Schotten haben aufgrund ihrer Teilnahme an britischen Angelegenheiten nie eine solche Unterdrückung erlebt und folglich auch kein Bewußtsein des Unterdrücktseins entwickeln können.

Sie meinen, er ist so romantisch, wie ein Roman von Sir Walter Scott?

Ja, der schottische Nationalismus, der in den 20er Jahren wieder aufkam, war sehr abstrakt und idealistisch wie die Religion einer seltsamen christlichen Sekte. Diesen Charakter hat er bis zum Ausgang der 60er Jahre beibehalten, als erstmals eine populäre Unterstützung für die nationalistischen Ideen zu verzeichnen war. Ideologisch ist der schottische Nationalismus ein seltsamer, enger, sektiererischer Glaube, der sich im Laufe der Zeit mit einigen positiven, progressiven sozialdemokratischen Ideen geschmückt hat, als Bewegung und soziale Organisation jedoch noch seinen Anfängen verhaftet geblieben ist. Die Leute wissen das und die Wähler fühlen das. Nationalismus ist heute zwar kein romantischer Treppenwitz mehr, aber die Leute trauen ihm noch nicht so ganz.

Womit sie auch sich selbst mißtrauen!

Womit sie wiederum Recht haben, wie die Ereignisse der letzten sechs Monate zeigen. Im entscheidenden Moment zeigen sich hier wieder die romantischen Reflexe: Statt an der Realität des politischen Bündnisses zur Schaffung eines schottischen Regionalparlaments teilzunehmen, ist die SNP erneut in ihre Traumwelt perfekter Unabhängigkeit entflohen. Dies ist es, was in Schottland seit 15 Jahren passiert: Die Leute sind auf der Suche nach ihrer politischen Identität, haben sie noch nicht gefunden und trauen der direkten Alternative, der SNP, nicht über den Weg.

Was halten die Schotten denn von dem Slogan der SNP von der „Unabhängigkeit in Europa“?

Dies ist ein wunderbares Beispiel für die Ambivalenz des schottischen Nationalismus. Der Grund, warum die SNP mit diesem Slogan relativ erfolgreich ist, liegt darin, daß hier wieder eine einfache Lösung des Nationalismus-Problems angeboten wird. In den 70er Jahren hatte die SNP einen anderen Slogan: „Schottlands Öl“, sollte den schottischen Weg in die Unabhängigkeit „schmieren“. Heute soll das Problem der Trennung von London, der Lösung aus dem Vereinigten Königreich allein durch die Existenz Schottlands in Europa gelöst werden. Das ist es, was die Schotten wollen: einen einfachen, unproblematischen und bequemen Weg in die Unabhängigkeit. Nicht wir selbst, nicht mehr die in London, sondern die in Straßbourg und Brüssel sollen uns nun die Unabhängigkeit bringen. Diese Formel kann unter Umständen sogar von viel wichtigeren Dingen ablenken, nämlich der Konstituierung einer politischen Identität, die einfach anti-britisch und separatistisch sein muß.

Selbst wenn die SNP hier die Idee eines neuen Europa zum eigenen politischen Vorteil instrumentalisieren sollte, greift die SNP durch ihre Formel von der „Unabhängigkeit in Europa“ nicht programmatisch das auf, was die Grünen als „Europa der Regionen“ bezeichnen und was vielleicht eine Art linke Utopie für ein zukünftiges Europa darstellt?

Ich spreche hier als einer, der für die Unabhängigkeit Schottlands und für Europa ist. Ich sehe den Bedeutungsverlust der traditionellen Nationalstaaten im Zusammenhang mit 1992 und akzeptiere auch, daß diesem Europa, das gegenwärtig ausschließlich als ökonomisches Gebilde gesehen wird, eine neue politische Ordnung gegeben werden muß. Aber ich denke, daß hier diejenigen Teile Europas, in denen die Regionen wie in Katalonien und auf Korsika - im Rahmen einer progressiveren Verfassung als der unsrigen - schon Rechte erkämpft haben, mehr zu diesem Prozeß beitragen können als Schottland. Ich halte allerdings persönlich die Frage, was in Europa den traditionellen Nationalismus ersetzen soll, für äußerst komplex und schwierig zu beantworten. Die Auflösung der nationalen Grenzen und der Nationalismen wird allgemein als Befreiung und als positiver Schritt zu einer offeneren und liberaleren Welt angesehen.

Was impliziert, daß der Nationalismus ein negatives und längst überholtes politisches Phänomen darstellt.

Was mir wiederum zu einfach ist. Der Nationalismus war für eine lange Periode der europäischen Geschichte eine ökonomische und soziale Notwendigkeit. Die Frage ist nun, was den Nationalismus als populäre Form politischen Bewußtseins ersetzen kann.

Wobei mir allerdings nicht klar ist, wie diese neuen Formen die alten Aufgaben des Nationalismus erfüllen sollen. Wenn es richtig ist, daß Europa sich weiterentwickeln muß, um mit den USA und Japan konkurrieren zu können, dann kann ich bisher nicht erkennen, in welchem neuen politischen und ideologischen Rahmen diese ökonomischen und sozialen Entwicklungen stattfinden sollen. In diesem Sinne kann die Formel von der „Unabhängigkeit in Europa“ vielleicht in zehn Jahren mehr bedeuten als heute, ganz gleich was in der Zwischenzeit in Schottland geschieht.

Nicht nur in Schottland gibt es derzeit eine Bewegung für eine konstitutionelle Reform, auch in der englischen Linken setzt sich immer mehr die Einsicht durch, daß politische Veränderungen ohne eine grundsätzliche Reform des politische Systems kaum möglich sein werden. So fordert die Intellektuellenbewegung „Charter 88“ eine neue „Bill of Rights“, eine Verfassungsreform des zunehmend zentralistischen britischen Staates. Sehen wir hier in Schottland (und jetzt auch in London) die ersten Anzeichen für das von Ihnen schon 1977 prognostizierte „Break Up of Britain“, das Aufbrechen des Vereinigten Königreiches?

Die ersten Anzeichen dafür gab es bereits Ende der 60er Jahre nicht nur in Schottland, sondern vor allem in Wales und Nordirland zu beobachten, als an der Peripherie Großbritanniens erste populäre nationalistische Bewegungen entstanden. Dies geschah an einem entscheidenden Wendepunkt der britschen Nachkriegsgeschichte, nachdem nämlich zwischen 1964 und 1966 der Versuch einer linken, sozialdemokratischen Modernisierung Großbritanniens durch die damalige Labour -Regierung gescheitert war. Dieses Versagen zerstörte die Fähigkeit des alten „Regimes“, sich auf der Linken zu erneuern, was ihm ja mit dem Nachkriegskonsens des Wohlfahrtsstaats bereits einmal gelungen war. Das Resultat dieses Scheiterns war, wie wir heute, 15 Jahre später, feststellen müssen, der Thatcherismus, die, wie der Soziologe Stuart Hall es nennt, „regressive Modernisierung“ durch die Konservativen.

Die ersten Erschütterungen nach dem Scheitern der „technologischen Revolution“ der Wilson-Jahre waren also damals bereits an der Peripherie zu spüren gewesen, in den Teilen Großbritanniens, die im späten 19.Jahrhundert den Liberalismus unterstützt hatten und später dann „links“ und „Labour“ wurden.

Dies ist die hergeleitete Geschichte des konstitutionellen Aufbrechens des Vereinigten Königreiches. Aber in welcher Beziehung steht denn nun der wiedererstarkte Nationalismus in Schottland zu den konstitutionellen Fragen aus Londoner Sicht?

Die Krise, wenn wir das so beschreiben wollen, erreicht die Metropole zuletzt; was absurd ist, weil sie ja hier verursacht worden ist. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit des Wandels hat im Zentrum länger gebraucht. Erst jetzt, nachdem die Auswirkungen des Thatcherismus und die Unfähigkeit der traditionellen Opposition allzu deutlich werden, hat die Krise auch im Zentrum eine Reaktion hervorgerufen, die in der Forderung der „Charter 88“ nach einer neuen Staatsverfassung gipfelt.

Englands Intellektuelle als Nachzügler?

Wenn sie das mit den Ereignissen an der Peripherie vor 15 Jahren vergleichen, dann können sie das durchaus als Suche nach einer neuen englischen, metropolitanen Identität verstehen. Heute, nach zehn Thatcher-Jahren, fühlt sich ein Teil der traditionell integrierten Intelligentsia so enttäuscht und bar jeder Hoffnung, daß endlich die Notwendigkeit eines strukturellen politischen Wandels eingesehen wird. Von der Peripherie her betrachtet ist dies eine sehr positive Entwicklung. Hier gibt es zwischen den Nationalisten und Autonomisten und den Reformern des Zentrums eine ganze Menge Gemeinsamkeiten, die - jedenfalls solange das Thatcher-Regime sich weiter so rücksichtslos austobt - für eine Allianz reichen könnte.

Im Augenblick sieht es allerdings so aus, als würde eine solche Allianz gegen den Thatcherismus nicht einmal in Schottland selbst zustande kommen. Halten Sie den Schritt der SNP vom Januar, aus der „konstitutionellen Konvention“ zur Formulierung eines Verfassungs- und Parlamentsanspruchs auszuscheiden, für eine historische Fehlentscheidung?

Auf jeden Fall. Die SNP spekuliert ja darauf, daß, wenn die konstitutionelle Konvention demnächst ihre politischen Forderungen vorbringt und diese von der konservativen Regierung in London abgelehnt werden, daß dann die Wähler zu ihr Überlaufen und für die völlige Unabhängigkeit stimmen werden. Wenn man allerdings die Erfahrungen der 70er Jahre zu Rate zieht, dann dürfte ein solches Szenario eher den Rückzug in die Apathie und einen erneuten Knacks des politischen Selbstvertrauens bewirken.

Was wird denn in einem solchen Fall in und mit Schottland geschehen?

Sollte es wirklich nach dem Scheitern der Konvention zu einem solchen Rückfall in ein apolitisches „Schottisch-Sein“ kommen, dann fürchte ich wirklich den Triumph des Thatcherismus auch in Schottland, eben aufgrund jener beschriebenen quasi-kolonialen Elemente in der schottischen Mentalität. Deswegen mag Frau Thatchers Ausspruch: „Wir haben Schottland noch nicht erobert, aber gebt uns noch eine Dekade“ gar nicht so weit hergeholt oder utopisch, wie heute noch viele denken.

Und danach würden die Schotten eher zum „Drink“ greifen als zu den Waffen.

Wir haben das schon einmal nach dem Desaster des Unabhängigkeits-Referendums von 1979 erlebt: ein kollektives Schulterzucken, was heißt: Da ist nichts mehr zu machen, ich betrinke mich jetzt, um mich zu betrinken. Diese nach innen gerichtete Reaktion, die völlige Privatisierung des Individuums gibt es in allen kolonialen Situationen, in den osteuropäischen Ländern unter kommunistischer Herrschaft, aber besonders dort, wo die Leute wie in Schottland an ihrer eigenen Unterwerfung beteiligt waren. Dies wären genau die Bedingungen, unter denen der Thatcherismus floriert: die Resignation in eine anhaltende politische Abhängigkeit, deren Kehrseite die Akzeptanz der Regeln des freien Marktes, des ökonomischen Individualismus ist.

Interview: Rolf Paasch