: ADELBERT IM EISE oder: DIE LETZTEN ABENTEUER
■ Geklaute Texte zu Fritz Gilow und BKH Gutmann im Künstlerhaus Bethanien
Fließend, fallend, naß und mikroskopisch - schon in allen möglichen Versionen hat sich BKH Gutmann mit dem Wassertropfen, dessen Wandlungs-Fähigkeiten, transportierender Kraft und lebensspendender Energie auseinandergesetzt. In seiner „Projektion“ hat er nun eine mit Wasser gefüllte Glaskugel vor ein Fenster im Bethanien gesetzt. Als ich noch nasepopelnd ratlos den darin auf dem Kopf stehenden Mariannenplatz betrachtete, fiel mir ein, wo ich diesmal die Gebrauchsanleitung zur Kunst einfach abschreiben könnte.
„Hier ist mit Worten nichts ausgerichtet, nichts mit Linien und Buchstaben; unmittelbare Anschauung ist not und eigenes Tun und Denken. Schaffen Sie sich also augenblicklich eine hohle Glaskugel a, etwa fünf Zoll, mehr oder weniger, im Durchmesser, wie sie Schuster oder Schneider überall brauchen, um das Lampenlicht auf den Punkt ihrer Arbeit zu konzentrieren, füllen solche mit Wasser durch ein Hälschen und verschließen sie durch den Stöpsel b, stellen sie auf ein festes Gestelle gegen ein verschlossenes Fenster d, treten alsdann mit dem Rücken gegen das Fenster umgekehrt in e, etwas zur Seite, um das in der Rückseite der Kugel sich präsentierende umgekehrte verkleinerte Fensterbild zu schauen, fixieren solches und bewegen sich ganz wenig nach ihrer rechten Hand zu, wo Sie dann sehen werden, daß die Glastafeln zwischen den Fensterleisten sich verengen und zuletzt, von den dunklen Kreuzen völlig zusammengedrängt, mit einer schon vorher bemerkbaren Farbenerscheinung verschwinden, und zwar ganz am äußersten Rand g, die rote Farbe glänzend zuletzt.
Diese Kugel entfernen Sie nicht aus Ihrer Gegenwart, sondern betrachten sie hin- und hergehend beim hellsten Sonnenschein, abends bei Licht; immer werden Sie finden, daß ein gebrochenes Bild an der einen Seite der Kugel sich abspiegelt und so, nach innen gefärbt, sich, wie Sie Ihr Auge nach dem Rande zu bewegen, verengt und bei nicht ganz deutlichen mittleren Farben entschieden rot verschwindet.
Es ist also ein Bild und immer ein Bild, welches refrangiert und bewegt werden muß; die Sonne selbst ist hier weiter nichts als ein Bild. Von Strahlen ist gar die Rede nicht; sie sind eine Abstraktion, die erfunden wurde, um das Phänomen in seiner größten Einfalt allenfalls darzustellen...“ (aus einem Brief von Goethe an Sulpiz Boisseree, Farbenlehre. Auf die weiteren 835 Seiten zur Farbenlehre wird für heute verzichtet.)
Ein paar Zentimeter weiter im Bücherregal fand sich dann gleich noch ein Text, in dem schon die Phantasien und Mythen anklingen, die Fritz Gilow in seiner Ausstellung „Das Nichts“ über eine geplante Reise an den Nordpol evoziiert.
„Adelbert schlummerte ein und ward wach und schlummerte wieder und ermunterte sich aufs Neue; hinter ihm - er lag gegen Norden hingestreckt - ging die Sonne auf und ging nieder, und es wechselten die Monde, und die Jahre vergingen: er aber lag immer noch fest angefroren an dem Boden, und über seinem Haupt rauschten blätterlos die dürren, windgeschlagenen Äste des Baumes. - Auch hatten sich rings um ihn, so weit er sehen konnte, Mauern aus Eis getürmt, die ihn umfingen und sich eng und enger um ihn drängten, gleich Mauern eines Kerkers, eines Grabes. Es ist doch seltsam, dachte Adelbert, und eine Beschwerde auf der Reise; und er dachte viel Törichtes, und wenig, das es nicht war; und wie es denn manchem auf seiner Reise zu gehen pflegt.
Er dachte: man muß die Notwendigkeit männlich ertragen, und murren gegen das Verhängte ist töricht: Gibt es einmal Gott, daß Tauwetter werde, so erlang ich vielleicht wohl einmal meine Freiheit wieder und setze dann meine Reise fort und benutze klug, was ich alles sehe; und unter solchen Gedanken pflegte er jedesmal wieder einzuschlafen.
Er war durch gründliches Nachforschen, zu dem er auch vollkommen Zeit hatte, nun dahintergekommen, wie das Wesen des Winter so sehr bösartig sei, und er hegte einen herben Haß gegen den Frost. Die einzige Lust, die er übrigens genoß, war, durch die Eisrinde, die ihn umschloß, zu den Sternen hinzuschauen, wann sie am nächtlichen Himmel prangten, und an dem ruhigen Kreislauf des himmlischen Wagens um den Polarstern lernt‘ er nach Zeiten erkennen, wann wiederum ein Jahr verstrichen war.“ (aus: „Adelberts Fabel“ von Adelbert von Chamisso, der selbst Teilnehmer einer Polarexpedition war.)
Die Reise als Selbsterfahrung, die drohende Gefahr des Festfrierens im Eis, der Verlust des normalen Zeitgefühls, das aus der Welt sein und schließlich der Verlust des Ich alles findet sich wieder in Gilows Projekt. Er möchte an den Nordpol reisen und in einem Film die Mythen, die Geschichten der vergeblich aufgebrochenen Forscher, eine dokumentarische Ebene und die symbolhafte Bedeutung der Reise in die Einsamkeit für den Künstler miteinander verflechten. Im Eis des Nordpols sind Fiktion und Realtität untrennbar miteinander verschmolzen.
Auf die Wände im Bethanien hat er Satzfetzen geschrieben, Mythenfragmente, die die Phantasie bereitwillig aufnimmt: „Die Sphinx des Nordens fordert Menschenopfer ... das mehrgesichtige Wesen beherrscht das Zentrum.“ In Zeichnungen versucht er die Begreifbarkeit der Himmelsrichtungen zu fassen, die Vorstellungen vom Nichts und vom Ende der Welt zu skizzieren. Birkenstämme und dunkelrote Segel wirken wie Leihgaben aus dem Völkerkunde-Museum. Ausgehöhlte, zerknitterte Mumien erinnern an die vergeblichen Reisen der Forscher. Ein großer Block aus Pappe, in dessen roterleuchtetes Innere man nur durch winzige Löcher gucken kann, ist zugleich Schiff, Eisblock, Kultstätte fremder Gottheiten.
Gilow braucht nur wenige Requisiten, um seine Geschichte anzudeuten. In der Verschränkung von Forschung, Expedition und Ästhetik werden die letzten Abenteuer gesucht. Die Selbstreflexion des aus allen Bindungen entlassenen Künstlers vor der Kulisse des Nordpols - dem weiten Horizont des Nichts - kann aber auch zur bloßen egozentrischen Spiegelung im Eise werden.
Katrin Bettina Müller
Fritz Gilow „Das Nichts“, BKH Gutmann „Projektion“ im Künstlerhaus Bethanien bis zum 30. April, täglich (außer montags) von 14-19 Uhr.
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