: „Das Tabu neu beleben“
■ Der grüne Abgeordnete und Rollstuhlfahrer Horst Frehe zur unterbliebenen Debatte über die humangenetische Beratung / „Für ein Lebensrecht Behinderter“
taz: Seid Ihr mit der Bürgerschafts-Debatte über Eure große Anfrage in Sachen Humangenetik zufrieden?
Horst Frehe: Nein, die Antwort auf unsere große Anfrage war eine Unverschämtheit. Die anschließende Diskussion ließ sich mit den Reden von Helga Trüpel (Grüne) und Barbara Noack (SPD) sehr nachdenklich an. Doch das wurde dann durch die massiven Vorurteilsstrukturen unseres Senators Franke kaputtgemacht.
Was ist da passiert?
Er hat uns zum Beispiel ganz generell unterstellt, wir würden die Diskussion um die Bestrafung von Abtreibung in einem Roll-Back zurückholen. Und er hat dann unheimlich platt gesagt, daß man Eltern nicht zumuten kann, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Die Frage, was die Auswirkungen solcher humangenetischer Beratung sind, hat er gar nicht zugelassen.
Welche Debatte hätte denn geführt werden sollen?
Es gab z.B. die Frage, wie der Senat zu möglichen eugenischen Implikationen der humangenetischen Beratungsstelle steht. Darauf wurde schlichtweg geantwortet: Der Senat lehnt jede eugenische Implikation ab. Damit bestreitet er schlicht die Selektion, die dort schon jetzt stattfindet. So gut wie 100 Prozent der Frauen, die einen positiven Befund bekommen, treiben anschließend ab. Das heißt: Durch die bloße Entscheidung zur Untersuchung wird schon eugenische Selektion betrieben.
Aber es ist uns wohl nicht gelungen, die Dramatik aufzuzeigen, die von Gentechnologie und Hu
mangenetik für das Lebensrecht Behinderter ausgeht. Heute wird die eugenische Untersuchung immer mehr zur Pflicht gemacht, es gibt eine Flut von Frauen, die über 35 sind, und hingehen müssen...
Wieso müssen, sie sind doch nicht gezwungen...
Ja, aber der gesellschaftliche Druck ist sehr stark.
Es stellt sich die Frage: Ist ein ungeborenes Kind Leben? Die Behauptung von Frauen, daß es sich nicht um ein eigenständiges Leben handelt, scheint ihnen nötig zu sein, um das Recht auf Abreibung zu begründen. Darin liegt aber die Gefahr einer Umtauschmentalität. Wenn ein Kind ein Defekt hat, dann wird versucht, dieses Kind möglichst nicht zu bekommen.
Das heißt, Du bist mit den Abtreibungs-Gegnern der Meinung, daß ein Fötus Leben ist. Ab wann?
Ich denke, daß man das nicht genau festlegen kann. Man könnte aber zum Beispiel, und das wäre sehr konsequent, die Befruchtung nehmen. Man kann die Einnistung nehmen. Das heißt aber nicht, daß damit automatisch eine Abtreibung strafbar sein muß.
Die Frauen gehen freiwillig in die humangenetische Beratung. Es scheint doch ein großes Bedürfnis danach zu geben. Willst Du das abschaffen, indem die Beratungsstelle finanziell ausgetrocknet wird?
Ich glaube, daß dieses Bedürfnis erzeugt worden ist. Und zwar mit ganz knallharten ökonomischen Argumenten. In den 70er Jahren gab es eine ganze Reihe von Humangenetikern, die vorgerechnet haben, daß es wesentlich billiger ist, diese Beratung zu organisie
ren und damit die Betreuungs kosten für behinderte Kinder einzusparen. Die Humangenetik steht gleichzeitig auch ideologisch in der Tradition der Rassenhygiene, die versucht, die Gesellschaft vor der „Überflutung durch Behinderte“ zu bewahren, wie der anerkannte Humangenetiker ogel in den 70er Jahren in einem Lehrbuch schrieb.
Das heißt, Frauen, die in die humangenetische Beratung gehen, sind potentielle Eugeniker.
Nein, aber sie sind von diesen Vorstellungen beeinflußt. Sie haben vielmehr unheimliche Angst vor einem behinderten Kind. Und diese Angst ist erzeugt.
Was läßt sich dagegen tun?
Das Gegenkonzept heißt Stopp der Finanzierung humangenetischer Beratung.
Das heißt, die Frauen sollen selbst bezahlen?
Nein. Man kann mir vorhalten, daß das Schließen keine Lösung sei, weil die Leute dann ausweichen würden. Das ist im Prinzip richtig, aber wir müssen im Grund genommen überhaupt erstmal die Debatte darüber ermöglichen. Im Augenblick gibt es einen Trend, daß Humangenetik immer mehr zur Normalität wird. Und dagegen wende ich mich.
Aber wie kannst Du das verhindern?
Mein Plädoyer ist folgendes: Wir müssen die Diskussion über Selbstbestimmung und über die Grenzen von Selbstbestimmung führen. Und wir müssen eine neue ethische Begründung des Lebensrechts Behinderter forcieren. Damit verbunden wäre eine Gegenbewegung gegen die Enttabuisierung von Tötung. Wir müssen das als Tabu neu beleben.
Fragen: Dirk Asendorpf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen