: Von der Unbrauchbarkeit der Gerichte
In Memmingen verlangten die Verteidiger Freispruch für den nach Paragraph 218 angeklagten Arzt / „Die Maßstäbe des Arztes für die Indikation können von keinem Gericht überprüft werden“ / Verteidiger werfen Staatsanwälten Doppelmoral und Zynismus vor ■ Aus Memmingen G.Schöller
Die Verteidiger des in Memmingen angeklagten Frauenarztes Theissen haben gestern mit ihren Plädoyers einen Frontalangriff gegen das gesamte Verfahren des spektakulärsten bundesdeutschen Abtreibungsprozesses gefahren. In den Mittelpunkt ihrer Erklärungen stellten sie die Frage der ärztlichen Maßstäbe für eine Indikation: Diese Maßstäbe seien grundsätzlich von keinem Richter, keinem Staatsanwalt und auch von keinem Verteidiger überprüfbar. Für ihren Mandanten forderten die Verteidiger folglich Freispruch.
Theissen, so führte Verteidiger Sebastian Cobler aus, habe in jedem Fall verantwortungsvoll und gewissenhaft gehandelt. Er habe sich in jedem Fall - Theissen ist in 156 Fällen angeklagt - sorgfältig vergewissert, daß eine Indikation vorliege. Deshalb sei Theissen nach § 218 freizusprechen, der Haftbefehl gegen ihn und die Beschlagnahme seiner Patientinnenkartei aufzuheben. Allerdings habe Theissen zweifelsfrei gegen Formvorschriften verstoßen: Er habe entgegen der bayerischen Verordnung - ambulant abgetrieben und dabei auf den Nachweis einer sozialen Beratung sowie der Indikationsstellung durch einen anderen Arzt nicht beharrt. Dies sei jedoch kein derart schwerwiegendes kriminelles Vergehen, daß eine Bestrafung erforderlich sei. Da Theissen auch in diesen Fällen zum Wohl seiner Patientinnen gehandelt habe, reiche eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus.
Zur zentralen Problematik des Verfahrens führten die Verteidiger aus: Eine ärztliche Indikation könne nicht von einem Gericht überprüft werden, weil die Mittel und Wege, mit denen der Arzt zu seiner Erkenntnis gelange, grundsätzlich anderer Art seien, als diejenigen des Gerichts. Zentrale Bedeutung im Verhältnis zwischen Patientin und Arzt habe das Vertrauen. Der Arzt gelange zu seiner Erkenntnis, mittels Intuition und Einfühlung, dank seiner Menschenkenntnis und Fortsetzung auf Seite 2
seiner medizininischen Fähigkeiten. Die Situation im Gericht sei dem diametral entgegengesetzt: bestimmt durch Zwang, Mißtrauen und Androhung von Strafmitteln. Das sei nicht die individuelle Schuld der Richter, sondern vom Gesetzgeber bewußt so konstruiert worden. Das Arzt-Patientinnen -Verhältnis sei vor Gericht niemals rekonstruierbar.
Der Versuch, allgemeingültige Maßstäbe für die Beurteilung eines Schwangerschaftskonflikts zu entwerfen, sei also „schiere Demagogie“, sagte Verteidiger Jürgen Fischer an die Adresse der beiden jungen Staatsanwälte Herbert Krause und Johann Kreuzpointner. Nach Ansicht von Theissens Vertei
digern kann das Gericht nur eines überprüfen: ob der Arzt den Schwangerschaftskonflikt eingeschätzt und beurteilt hat. Seine Kriterien für die Bewertung jedoch könne das Gericht nicht überprüfen.
Durch Gutachter, die im Laufe dieses acht Monate dauernden Prozesses auftraten, sei bestätigt worden, daß Theissen „in keinem Fall leichtsinnig und leichtherzig“ eine Abtreibung vorgenommen habe. Häufig hätten ihn die Patientinnen im Gespräch flehentlich darum gebeten, auf den Nachweis über die Sozialberatung und die Indikationsstellung durch einen anderen Arzt zu verzichten. Sie hätten den bürokratisch aufwendigen Hürdenlauf gefürchtet, im ländlichen Raum hätten sie Angst um ihre Anonymität gehabt. Wenn Theissen die Regeln der Paragraphen 218b und 219 verletzt habe, so nicht aus Verachtung für dieses Gesetz, sondern aus Sorge um das Wohl seiner Patientinnen.
Hart gingen die Verteidiger auch mit der „Doppelmoral und dem Zynismus der Staatsanwälte“ ins Gericht. Was immer die Zeuginnen ausge
sagt hätten, es sei gegen den Angeklagten verwandt worden.
Gunhild Schöller
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