piwik no script img

Poetisches Märchen auf der Leinwand

■ In „Versteckte Leidenschaften“ von Mehdi Charef rettet ein stotternder Bäcker eine drogensüchtige und selbstmörderische Prinzessin

Wer gerne Märchen mag, wird diesen Film lieben, denn Mehdi Charefs „Versteckte Leidenschaften“ ist wie eine moderne Fassung der Geschichte von der Prinzessin in Not und dem edlen Retter. Charef wollte eine Geschichte erzählen, wie er sie als Kind von seiner Mutter gehört hat, und nach dem Tod einer drogensüchtigen Freundin sagte er sich: „Wenn du schon niemand im wirklichen Leben retten kannst, dann wirst du es wenigstens durch das Kino tun.“

In „Camomille“ (so heißt der Film wirklich, der deutsche Titel ist wieder einmal eine phantasielose Peinlichkeit) trifft der arme, stotternde, durch seine Mutter von allem abgekapselte Bäcker Martin die reiche und schöne und berühmte Camille - eine verzweifelte Prinzessin, die sich mit einem goldenen Schuß das Leben nehmen will. Bisher waren Autos die einzige Leidenschaft von Martin und sein Dachboden, auf dem er mit Camille lebt, sie pflegt oder einsperrt, zu dem sie zurückkehrt und wo sie sich versteckt, ist voller Autoteile die zu Möbeln umfunktioniert wurden. Da steht auch eine wunderschöne, aus Wrackteilen zusammengebastelte Limosine. „Du wirst es nie schaffen, sie hier herauszubrin

gen“, sagt Camille. Martin antwortet erstaunt: „Wozu auch“.

Wie diese beiden Verlorenen sich gegenseitig retten, auf einem langen und abenteuerlichen Weg, das erzählt Charef aber es wird nicht viel geredet in diesem Film, Charef hat einen feinen Sinn für Bilder, Gesten oder Details, mit denen er die Geschichte viel wahrer und spannender erzählt als mit großartigen Effekten oder geschliffenen Dialogen. Sie wirkt

nie kitschig, obwohl der Plot nahe an einer Groschenromantrivialität entlangführt.

Der 24jährige Remy Martin, dessen Filmkarriere zusammen mit der Charefs 1985 in dessen „Tee im Harem des Archimedes“ begann, entwickelt sich zum neuen Star des französischen Kinos. In der Rolle des stotternden, linkischen und verletzlichen Martin läßt er in einer superben Leistung die unterdrückten Gefühle, die Zärtlichkeit und Einfachheit, aber auch Würde und Stärke der Figur spürbar werden. Und auch Philippine Leroy - Beaulieu spielt als die immer mehr zum Leben zurückfindende Camille sehr anrührend und überzeugend.

Mehdi Charef hat sein Märchen im tristen Alltag der Verlierer angesiedelt, er ist ganz auf ihrer Seite, seine Kamera rückt ihnen nie auf den Pelz, sie geht immer zärtlich und behutsam mit ihnen um. Diese immer spürbare Sympathie macht den Film so angenehm, schön, und ehrlich. Man muß Altmeister Claude Chabrol rechtgeben: Der Film verbindet „Wahrheit und Poesie, Distanz und Mitgefühl, Strenge und Zartheit, Stil und Unabhängigkeit. Charef ist ein großartiger Regisseur.“

Wilfried Hippen

Cinema, 21 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen