: Die Realissimas unter den AtomkraftgegnerInnen
Der Verein „Eltern für unbelastete Nahrung“: Vom Hungerstreik für unverstrahlte Nahrung aus EG-Beständen zum Notköfferchen mit Jodtabletten / Drei Jahre nach Tschernobyl 8.000 Mitgliedsfamilien aber keine zentralen Protest-Aktionen zum Jahrestag / „Wer wirklich informiert ist, ist automatisch gegen Atomkraftwerke“ ■ Aus Hamburg Kai Fabig
Die alte Dame, die mir im Zug gegenübersaß, freute sich diebisch. Endlich einmal hatte sie einen Vorteil von ihrem hohen Alter. Die Erdbeeren aus ihrem Garten seien köstlich gewesen, berichtete sie mir verschmitzt lächelnd. Das war im Sommer vor drei Jahren, als Ausdrücke wie Becquerel, Sievert, Rem oder Curie plötzlich zum alltäglichen Sprachgebrauch gehörten. Ich hatte mir den mühsam angewöhnten mittäglichen Milchkonsum zum „Ausgleich“ meiner Nikotin- und Koffeinsucht gerade wieder abgewöhnt. Die alte Dame aber begegnete meinem erschrockenen Gesicht mit dem entwaffnenden Argument, daß sie den Krebs, der durch den Verzehr der strahlenden Früchte ausgelöst werden könnte, nicht mehr erleben werde.
Etwa zur gleichen Zeit traten in Kiel sieben Mütter in den Hungerstreik. Klappstühle, Sonnenschirme, Matratzen und Blumen sorgten vor dem Sozialministerium der Gräfin Brockdorff für Balkon-Atmosphäre. Doch hinter den Müttern stand auf einem Transparent: Warum gute Butter für Rinder und verseuchte Milch für die Kinder? An diesem Tag, dem 12.Juni 1986, war bekannt geworden, daß der Medizinphysiker Henning Wendhausen bei der Ganzkörpermessung eines drei Monate alten Säuglings eine radioaktive Belastung von zehn Becquerel Gesamtcäsium pro Kilogramm Körpergewicht festgestellt hatte. Das Baby strahlte also so stark, als bestünde es - nach heutigen Meßberichten - nur aus tiefgekühlten Eierpfannkuchen mit Blaubeerfüllung.
Eine andere Nachricht jedoch war es, die dazu führte, daß nach eigenen Worten „nicht ausgesprochen gegen Atomkraftwerke“ eingestellte Frauen, sich zum spektakulären Hungerstreik-Protest entschlossen. Mitte Mai ging die Meldung durch die Presse, daß Wissenschaftler der Universität Kiel wegen der Gefährlichkeit der Cäsium- und Strontiumbelastung für Kinder und Schwangere unverseuchte Spezialnahrung aus EG-Beständen empfehlen würden. Einer Kieler Mutter ließ diese Meldung keine Ruhe. Schon vorher hatte sich Anke Untiedt gefragt, wie sie ihre zweijährige Tochter ernähren sollte, nachdem die widersprüchlichsten Nachrichten über die Gefährlichkeit oder Unbedenklichkeit radioaktiv belasteter Lebensmittel über sie hereingebrochen waren. Jetzt aber gab es etwas Konkretes, etwas, für das sie sich einsetzen konnte: Die Forderung nach unbelasteter Nahrung. Denn diese Nahrung existierte ganz offensichtlich in Form der EG-Bestände. Per Zeitungsanzeige suchte Anke Untiedt nach Mitstreiterinnen, „die gegebenfalls auch in den Hungerstreik treten würden“, wenn die schleswig-hosteinische Landesregierung die Verteilung von Spezialnahrung an Risikogruppen verweigern würde. Zehn Frauen und 16 Kindern kamen nach einem Gespräch mit Wendhausen, der zu den Wissenschaftlern gehörte, die unbelastete Nahrung für Schwangere und Kinder gefordert hatten, in ihrer Wohnung zusammen. Danach ging alles ganz schnell.
Nazu im Handumdrehen hatten die Frauen eine Informationsveranstaltung mit Wendhausen organisiert. 300 Leute kamen einen Monat und drei Tage nch Tschernobyl, am 29.Mai 1986, zusammen, um sich über diese unheimliche Gefahr, die man weder sehen, riechen, schmecken noch anfassen konnte, zu informieren.
Als am Ende der Veranstaltung vorgeschlagen wurde, einen Verein „Eltern für unbelastete Nahrung“, kurz EfuN zu gründen, gab es begeisterten Applaus. Nur knapp eine Woche später war diese Idee in die Tat umgesetzt, und der Verein konnte bereits an seinem Gründungstag 280 Mitglieder für sich verbuchen. Am selben Tag wurde auch mit der Verteilung von unverstrahltem Milchpulver aus EG-Beständen begonnen.
Zur Finanzierung hatte der Verein Kredite aufgenommen. Denn das Kieler Sozialministerium reagierte nicht auf die Forderung nach Freigabe der EG-Bestände fr Risikogruppen. Auch der Hungerstreik führte lediglich zur Vereinbarung eines Gesprächstermins, den die Sozialministerin dann aber nicht einhielt.
Dafür kam von anderer Seite Unterstützung. Ab Juni 1986 wurde an der Uni Kiel im Rahmen einer Doktorarbeit die Radioaktivität in Lebensmitteln gemessen. Aus diesen Daten bastelte EfuN so etwas wie eine Einkaufsliste für wenig belastete Produkte. In dieser Service-Leistung bestand auch in der Zukunft die Hauptaufgabe des Vereins. Spenden ermöglichten es, im November das erste eigene Meßgerät, einen Reinstgermaniumdetektor für 120.000 Mark anzuschaffen.
Seitdem erscheint das wöchentliche 'Meßwert-Info‘, das mittlerweile insgesamt 8.000 Mitgliedsfamilien im gesamten Bundesgebiet und West-Berlin zugeht, und auch in Holland, Dänemark, Östereich und der DDR LeserInnen hat. Darin wird nicht nur die heute noch hohe Balastung eines 752 Becquerel Heidschnuckenschinkens mitgeteilt. Der regelmäßige Labor -Kommentar hilft auch die nackten Zahlen einschätzen zu können. So erklären die LabormitarbeiterInnen, erhöhte Becquerel-Werte bei Hartweizen-Nudeln damit, daß der hochverstrahlte griechische Hartweizen aus der 86er Ernte, der zur Zeit die Lager verstopfe, jetzt verstärkt auf dem Markt geworfen werde - wenn auch verschnitten mit weniger belastetem Getreide.
Seit Anfang des Jahres wird auch das Trinkwasser untersucht und zwar auf Kupfer, Blei, Cadmium, Chlorid und Nitrat. Chemische Lebensmitteluntersuchungen sollen folgen. Hinzu kommt ein Radioaktivitäts-Frühwarnsystem, das ingesamt 198 Meßstationen - besonders in der Nähe von Atomkraftwerken miteinander verbindet.
Drei Jahre nach Tschernobyl messen sie also weiter - und sonst? Auch sonst sind die Frauen, die damals in den Hungerstreik traten, ihrer Sache treu geblieben. Denn nur scheinbar besteht ein Widerspruch zwischen dieser aufsehenerregenden Aktion und einem Brief an Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau, der kürzlich in Anti-AKW -Kreisen Kopfschütteln auslöste. Darin wird die konstruktive Mitarbeit an einem Katastrophenschutzplan angeboten. Hauptbestandteile eines solchen Planes sollten nach Ansicht von EfuN sein: „Ein Notpaket für jeden Bürger, bestehend aus Jodtableten, Schutzanzügen, Atemmasken und Bundeswehrverpflegung für mindestens 14 Tage, Evakuierungspläne für Risikogruppen, die Vergabe von EG -Hearungsmitteln“ und umfassende Informationen „über geplante staatliche Maßnahmen und über sinnvolle individuelle Verhaltensmaßnahmen“. Dieses Musterbeispiel an Realpolitik steht deshalb nicht im Widerspruch zu der Hungerstreikaktion, weil die sieben Mütter, die vor dem Kieler Sozialministerium die Nahrungsaufnahme verweigerten, auch damals nicht die sofortige Abschaltung sämtlicher Atomkraftwerke forderten, sondern unbelastete Nahrung aus EG -Beständen, etwas Konkretes, sofort Umsetzbares forderten die „Realissimas“. Das heißt allerdings nicht, daß EfuN heute die Existenz von Atomkraftwerken akzeptiert. „Ich dulde die Dinger nicht“, sagt Angela Marx-Siebdraht, stellvertretende Vereinsvorsitzende, „aber ich bestehe auf Schutzmaßnahmen, solange die Atomkraftwerke da sind.“
„Wenn wir bei Tschernobyl das an Schutz und Information gehabt hätten, was wir jetzt fordern, dann hätten wir 80 Prozent der Jodaktivität nicht eingeatmet“, lautet ihr Argument. Den Einwand, daß das Notpaket im Hause eine nur scheinbare Sicherheit vorgaukle, läßt sie nicht gelten. Wer wirklich informiert sei, sei quasi automatisch gegen Atomkraftwerke. Das Notpaket habe dann den Effekt der tagtäglichen Erinnerung an die bestehende Gefahr.
Dennoch oder gerade wegen dieser Argumentation hat der Verein seine Mitglieder zum dritten Jahrestag des Super-GAUs von Tschernobyl nicht für zentrale Aktivitäten mobilisieren können. Statt dessen gab es einen „Tag der offenen Tür“.
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