: Half Life
■ V O R L A U F
(Halbwertzeit, 22.45 Uhr, Bayern III) Was den Franzosen die Mururoa-Inseln sind, ist den Amerikanern „ihr“ Bikini-Atoll. Während des Krieges mit Japan eroberten die USA die winzigen Koralleninseln im Pazifik. Zwei Jahre später (1947) wurden sie Treuhänder jener Inselgruppe, von den Vereinten Nationen verpflichtet, die „Rechte und Grundfreiheiten der Ureinwohner zu garantieren“. Dieser Aufgabe widmeten sich die Amerikaner mit aller Gründlichkeit: Über ein Jahrzehnt wurde den Inselbewohnern die ungeahnte Freiheit zuteil, den US-Atomwaffen-Versuchen im Pazifik unmittelbar beizuwohnen. Mehr noch: Sie durften Versuchskaninchen spielen für skupellose US-Forscher, die an der Beobachtung menschlicher Langzeitschäden bei atomarer Verstrahlung brennend interessiert waren. Natürlich bezeichneten es die verantwortlichen Behörden als bedauerlichen Unfall, als 1954 bei der Zündung der ersten Wasserstoffbombe (ihr Name war „Bravo“!) stark radioaktiver Fallout auf die Inselgruppe niederging. Ein plötzlicher, nicht vorhersehbarer Wetterumschwung habe die Richtung des Niederschlags geändert, war die offizielle Erklärung. Auf eine vorherige Evakuierung der nahegelegenen Inseln hatte man schlichtweg verzichtet.
Der australische Dokumentarfilmer Dennis O'Rourke kommt nach zweijährigen Recherchen zu einem ganz anderem Ergebnis. Er rekonstruiert die Ereignisse jener Tage, befragt Verantwortliche - Wissenschaftler, Soldaten, Politiker und Bürokraten - und sucht Betroffene, soweit sie noch leben. Kurz nach dem „Unfall“ wurden die Inselbewohner evakuiert, auf Schiffe verfrachtet und in amerikanische Forschungszentren gebracht. Dort wurde ihr langsamer Tod akribisch studiert, begleitet und behandelt. Wem fallen zuerst die Haare aus, wann beginnen die Knochen zu brechen? Alles im Dienste der treuhänderischen Fürsorge.
O'Rourke weist nach, daß die Wetterlage im Pazifik lange genug bekannt war, um die Inselbewohner zu retten, wenn man das nur gewollt hätte. Eine alte zahnlose Greisin legt ein erschütterndes Zeugnis ab: Die Kinder sind vergnügt im Freien herumgehüpft, als die weißen Flocken vom Himmel fielen. Sie glaubten, es sei Schnee - etwas, das sie noch nie im Leben gesehen hatten. Tage oder Wochen später verwandelten sie sich vor den Augen ihrer kranken Mütter in haarlose Gnome, die qualvoll sterben.
Dennis O'Rourke über seinen Film: „In gewissem Sinne sind die Bewohner der Marshall-Inseln die ersten Opfer des Dritten Weltkrieges. Sie sind die erste Kultur in der Geschichte der Menschheit, die effektiv durch radioaktive Strahlung vernichtet wurde. Im Namen der nationalen Sicherheit haben die USA die zerbrechliche Welt der Inseln auf Generationen hinaus unwiderruflich zerstört.“ Drei Jahre nach Tschernobyl hätte dieser Beitrag einen zentralen Sendeplatz in der ARD oder im ZDF verdient.
utho
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