: Wann stürzt Gorbatschow?
■ US-Aufrüster sagen das Scheitern des großen Reformers voraus
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In den letzten Wochen und Monaten war es verwunderlich, mit welcher Penetranz konservative Presseerzeugnisse das Scheitern von Gorbatschow herbeizureden versuchten. Auch im deutschen Blätterwald rauschte es: 'Bild‘ bis 'Welt‘ sahen den großen Reformer schon in die Abgründe der Macht stürzen und erklärten die Widerstände gegen seinen Kurs als unüberwindlich. Selbst in der taz schlug ob solcher Propanganda schon die Stimmung um: „Wann stürzt Gorbatschow?“ munkelte es auf den Gängen; wir müßten uns auf eine Nach-Gorbatschow-Ära einrichten, wünschten Schwarzseher und Dogmatiker in ungewohnter Eintracht.
Auch Herr Richard Cheney, der amerikanische Verteidigungsminister, macht sich große Sorgen um die Zukunft des sowjetischen Generalsekretärs und seines Reformprogramms. Doch als er am Dienstag vor dem Streitkräfteausschuß des Repräsentantenhauses davon sprach, Gorbatschow könnte gezwungen sein, die Macht niederzulegen, und sein Nachfolger könnte wieder unkalkulierbar sein, war der Wunsch zu offensichtlich Vater des Gedankens. Denn der Schluß seiner Logik, bei der Aufrüstung und vor allem bei den Kurzstreckenraketen dürften keine Konzessionen gemacht werden, ist für ihn und seinesgleichen wie ein Befreiungsschlag. Nachdem Gorbatschow die westlichen Militärs und Rüstungslobbyisten jetzt schon seit Jahren mit immer neuen Abrüstungsinitiativen nervt und die verunsicherten Bevölkerungen der Nato-Staaten an die Offerten des Ostens zu glauben beginnen, ja selbst die Kohl -Regierung den Schalmeienklängen aus Moskau erliegt, muß ein neues Schreckgespenst her. Wenn es Gorbatschow nicht mehr sein kann, dann eben ein anderer „Russ“ - der von Cheney gewünschte und herbeigeredete Nachfolger.
Dieses Phantom wird nach den letzte Entwicklungen in Moskau jedoch lange in den Startlöchern warten müssen. Denn mit den Rücktritten im ZK, der Verkleinerung dieses höchsten Parteigremiums und dem Nachrücken von Reformanhängern hat Gorbatschow am gleichen Tag den amerikanischen Verteidigungsminister handfest widerlegt. Nach dem Sieg von Perestroikaanhängern bei den Wahlen sind nun auch in der Partei die Weichen für weitreichendere Personalveränderungen gestellt.
Vielleicht aber wird der Nachfolger dereinst auch aus einer ganz anderen Ecke kommen, als Cheney es erhofft. Zwar ist Gorbatschow im Ausland immer noch die Gallionsfigur der Perestroika, doch in der Sowjetunion selbst tummelt er sich im neuen politischen Spektrum gerade noch links von der Mitte. Mit den Wahlen, dem überwältigenden Sieg des „Linken“ Jelzin in Moskau, den Erfolgen der Volksfrontbewegungen und der Niederlage des Parteiapparats ist Gorbatschow dort mit seinen Positionen zu einem zentristischen Politiker geschrumpft, die Perestroika jedoch gefestigt. Wenn Gorbatschows Renomee in der UdSSR jetzt etwas angeschlagen scheint, dann wegen der immer noch nicht greifenden Wirtschaftsreform und der politischen Stümperhaftigkeit in Nationalitätenfragen - noch immer wird die Wahrheit über den Einsatz der Sondereinheiten in Georgien verschwiegen -, keinesfalls wegen der Abrüstungspolitik. Für die wird Gorbatschow auch noch in den nächsten Jahren genug „Luft zum Atmen“ haben.
Erich Rathfelder
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