Die 90er Jahre - ein Jahrzehntder Gewerkschaften?

ESSAY

Von Helmut Schauer

Der folgende Essay beruht auf einem Vortrag, den Helmut Schauer vor einem Kreis von Managern gehalten hat. Schauer, ehemals Bundesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), arbeitet in der Tarifabteilung beim IG-Metall-Vorstand in Frankfurt.

Der Gestaltpsychologe Köhler hat in den zwanziger Jahren mit dem Affen Sultan experimentiert. Er hat ihm eine Banane vor den Käfig gelegt. Sultan ist immer wieder gegen das Gitter gelaufen und hat sich den Kopf gestoßen - bis er sich hingesetzt und nachgedacht hat. Dann griff er sich einen Bambusstock und holte die Banane heran. Ähnlich wie Sultan hat sich auch die IG Metall mit ihrer Zukunftsdiskussion ein Stück Nachdenklichkeit vergönnt. Ziel dieser Diskussion ist eine Re-Vitalisierung, eine Renaissance der Gewerkschaften. Werden die neunziger Jahre, wird das kommende Jahrzehnt des Umbruchs ein Jahrzehnt der Gewerkschaften?

Herr Stumpfe (Arbeitgeberpräsident, d. Red.) und seine Freunde empfehlen uns die Modernisierung unserer Politik. Wir bekämen Gewerkschaften, die sich vor allem als Interessenvertretungen der „Rationalisierungsgewinner“ verstehen; Gewerkschaften, die die Arbeitslosigkeit und das gesellschaftlich-sozialpolitische Strukturprinzip hinnehmen, zu dem sie in der neokonservativen Politik geworden ist; Gewerkschaften, die auf autonome gesamtgesellschaftliche Konzepte verzichten und sich auf die Rolle eines allenfalls rahmensetzenden Moderators für betriebliche Steuerungs- und Anpassungsprozesse zurückziehen. Ich halte dieses Modell einer Gewerkschaftspolitik des bloßen sozialpolitischen Krisenmanagements angesichts der gesamtpolitischen Traditionen der deutschen Gewerkschaften und angesichts des Konfliktpotentials, das sich gerade durch den neokonservativ gesteuerten Strukturwandel sukzessive anhäuft, schlichtweg für unrealistisch.

Ich muß hier nicht erst nach Rheinhausen deuten. Ich kann auch auf Italien und neuerdings auf Frankreich verweisen, wo scheinbar aus dem Nichts plötzlich Basisbewegungen auftreten, die eine modernistische Gewerkschaftspolitik unterlaufen. Die Illusion einer modernistischen, konfliktfernen Gewerkschaftspolitik ist selbst Produkt des gesellschaftlichen Umbaukonzepts, mit dem die neokonservative Politik den Strukturwandel zu bewältigen versucht.

Gewerkschaften, die nicht zu einem innerlich von Konkurrenzfeindschaft zerfressenen Sammelsurium von Kartellverbänden privilegierter Gruppen verkommen wollen, können sich von einer solidarischen Politik gar nicht verabschieden. Nur Kurzsichtigkeit oder propagandistische Absicht kann in einer Politik für die Schwachen und die vom sozialen Abstieg bedrohten Arbeitnehmer einen Widerspruch sehen zu zeitgemäßer Gewerkschaftspolitik. Es führt nun einmal kein Weg daran vorbei, daß Arbeitslosigkeit und Arbeitsmangel, weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus, Angst erzeugen und zu Anpassung und Anspruchszurückhaltung führen.

Sicher, die Gewerkschaften haben es bisher bei weitem noch nicht verstanden, ihre Politik hinreichend mit den Bedürfnissen und Interessen der neuen Arbeitnehmergenerationen, der Frauen und der beruflich hochqualifizierten Arbeitnehmergruppen der Angestellten zu verknüpfen. Manche erwarten nun, daß aus der Wendung zu den Angestellten endlich pflegeleichte unpolitische Gewerkschaften herauskommen. Diese Hoffnung, da bin ich mir ziemlich sicher, werden wir enttäuschen müssen.

Wenn es den Gewerkschaften gelingt, sich zu reformieren und demokratisieren, die sensibleren, zugespitzten Freiheits und Selbstbestimmungsinteressen der heutigen, hochgebildeten Arbeitnehmerschaft wirklich aufzunehmen und politisch zu artikulieren, wenn sie zu der modernen Menschenrechtspartei des Arbeits- und Lebensalltags werden, dann kann das nur eine Radikalisierung bedeuten, die im besten Sinne des Wortes an die Wurzel sozialer Herrschaft geht.

Diese Gewerkschaften werden politischer, vitaler, konfliktfreudiger, also politisch produktiver sein. Letztlich wird sich die Attraktivität und die geistige Ausstrahlung der Gewerkschaften um so mehr steigern, wie sie zum Diskussions- und Kooperationszentrum des soziokulturellen Diskurses werden, in dem der Sinn politischen und wirtschaftlichen Handelns für die menschlichen Lebensbedingungen auch gegenüber den ökonomischen Sachgesetzlichkeiten behauptet wird.

Die Zukunftsdiskussion in den Gewerkschaften wird auch politisch-programmatische Konsequenzen haben. Schließlich geht es darum, über die traditionelle gewerkschaftliche Sozialstaatspolitik hinaus einen neuen Horizont des geschichtlich Möglichen zu eröffnen. Dabei zeichnen sich, wie vage auch immer, folgende Tendenzen ab:

1. Die Gewerkschaftsdebatte wird sich darauf richten müssen, die negative Besetzung des Zukunftshorizonts aufzubrechen, die sich quer durch die geistigen und politischen Strömungen zieht. Wir haben die geschichtlichen Möglichkeiten zu besseren und würdigeren Lebensbedingungen für alle, zu einer gerechteren und freieren Gesellschaft, zu einer höheren, differenzierteren und qualitativ reicheren Industriekultur, wenn wir die neuen Technologien ökologisch und human nutzen und den Stukturwandel daraufhin gestalten. Diese geschichtlichen Möglichkeiten müssen zum Maßstab des politischen Handelns werden. In Frage stehen alle Bedingungen, die dazu führen, daß der erreichte menschliche Reichtum, sei es durch Arbeitslosigkeit, sei es durch kreativitäts- und leistungsblockierende Herrschaftsstrukturen, vernichtet wird. Der neue soziale Diskurs muß das Bewußtsein darüber wieder herstellen, daß die sozialen und kulturellen Teilhabe- und Leistungschancen der Individuen in der Eigentumsgesellschaft eben von der Einkommensverteilung abhängen. Das Problem einer gerechteren Einkommensverteilung wird sich für die Zukunft gerade durch den Bedeutungszuwachs verschärfen, den die Lebensgestaltung in der Freizeit erfahren wird.

2. Die ökologische Krise und die Beschäftigungskrise untergraben bei breiten Schichten der Bevölkerung die Legitimität der fortbestehenden Alleinherrschaft des Wirtschaftsestablishments über die Planung der Produkte und der Produktion. Mit ihrem Konzept der Beschäftigungsgesellschaften hat die IG Metall einen Ansatz entwickelt, der verallgemeinerungs- und ausbaufähig ist und zum Ausgangspunkt für die Entwicklung demokratischer Produktions- und Planungsöffentlichkeiten werden kann.

3. Unstrittig ist, daß die angemessene Nutzung der neuen Technologien mit den tayloristischen Formen hierarchischer Herrschaft im Betrieb nicht möglich ist. Die betriebliche Sozialorganisation wird so oder so umgebaut. Dabei zeichnet sich eine Architektur ab, in der die Entscheidungs- und Kontrollinstanzen formalisiert und zentralisiert, die mittlere Hierarchie ausgedünnt und die ausführenden Funktionen dezentral verselbständigt werden. Die Entwicklung kann aber auch zu einer neuen Form des Autoritarismus quasifeudaler Art führen, in dem sich die Abhängigkeit des einzelnen subtil und darum erst recht lernhemmend verstärkt. Diese Fragen haben eine eminente Bedeutung für die Entwicklungschancen des demokratischen Gemeinwesens. Die IG Metall wird Vorschläge und Initiativen für einen Umbau der betrieblichen Sozialverfassung zur Diskussion stellen, die auf den Abbau von Herrschaft und die Demokratisierung des Arbeitslebens, auf partizipative, lern- und kreativitätsfördernde Strukturen zielen.

Bertolt Brecht hat in seinen Flüchtlingsgesprächen die Zeit der Ludendorff-Herrschaft vor der Novemberrevolution 1918 charakterisiert: „Wo die Ordnung am größten ist, ist auch die Unordnung am nächsten.“ Die Zukunft liegt nicht bei denen, die sie hektisch „besetzen“, sondern dort, wo nach Lösungen gesucht wird, die nicht bloß die trivial gewordene Tagesaktualität verlängern. Darin liegt ihre politische Chance. Die Aussichten, daß sie diese Chance ergreifen werden, sind so gering nicht. Die neunziger Jahre können ein Jahrzehnt der Gewerkschaften werden.