Sturm im Wasserglas?

■ Das Arbeitsrecht soll in den EG-Ländern gelockert werden - aber arrogant und falsch ist es, vor „südeuropäischen Verhältnissen“ zu warnen

Teil 14

Eines steht schon heute fest: Wer auch immer die glorreiche Idee hatte, den Binnenmarkt ausgerechnet bis zum 31.Dezember 1992 Wirklichkeit werden zu lassen, hat einen Preis für herausragende PR-Arbeit verdient. Auch wer mit Europa nichts am Hut hat und wen Brüssel bislang eher kalt gelassen hat, weiß etwas mit „1992“ anzufangen.

Ob es allerdings das Richtige ist, steht dahin. Soviel ist klar: Bis zum magischen Datum des 31.12.1992 sollen alle noch bestehenden technischen, rechtlichen und steuerlichen Hindernisse des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs und Kapitalverkehrs zwischen den zwölf Mitgliedsstaaten der EG vollständig abgeschafft werden. Wirtschaft und Werbung sind gerüstet und stimmen sich hochgemut auf 1992 und die folgenden Jahre ein. Und die Arbeitgeberseite stellt auch gleich ihre Forderungen: Soziale Rechte müßten massiv abgebaut werden, sonst seien Länder wie die Bundesrepublik mit angeblich hohem Schutzstandard für Arbeitnehmer nach Öffnung der Binnenmarktgrenzen nicht mehr wettbewerbsfähig. Deutsche Gewerkschafter auf der anderen Seite fordern einen Mindestsockel garantierter sozialer Rechte, denn sonst drohe nach ihrer Meinung ein Sozialdumping - was immer dieses scheußlich klingende Wort bedeuten mag. Wer hat Recht im bislang theoretischen Streit?

Nun, die Geschichte der Sozialgesetzgebung reicht für alle EG-Mitgliedsländer bis ins 19.Jahrhundert hinein. Der Versuch, Arbeitsgesetzgebung international abzustimmen, beginnt im Jahre 1919 mit der ersten internationalen Arbeitskonferenz in Washington, die die 48-Stunden-Woche und den Acht-Stunden-Arbeitstag zur Norm erhob. Das sich aus dieser Konferenz entwickelnde Internationale Arbeitsamt (ILO) - heute mit Sitz in Genf - hat in der Folgezeit eine Reihe von Konventionen und Vorschlägen für die Regulierung der Arbeitszeiten und des Arbeitsschutzes vorgelegt.

Dazu zählen Konventionen über die Arbeitszeit, eine Konvention über bezahlten Urlaub, über Mutterschutz, über Nachtarbeitsverbote für Frauen und Jugendliche und das Recht auf Bildungsurlaub. Bindende EG-Richtlinien für den Bereich der Sozialgesetzgebung liegen bisher kaum vor und sind bislang am Prinzip der Einstimmigkeit im Ministerrat gescheitert. Soweit EG-Richtlinien vorliegen, betreffen sie die Gleichstellung von Frauen im Arbeitsleben (fünf Einzelrichtlinien), eine Regelung im Falle von Massenentlassungen, die erworbenen Rechte im Fall eines Betriebsüberganges und die Wahrung der Ansprüche im Fall eines Konkurses.

Bereits heute können Regeln, die den Binnenmarkt - nicht aber die Sozialpolitik im Binnenmarkt - betreffen, mit einer qualifizierten Mehrheit im Ministerrat verabschiedet werden. Der Präsident der EG-Kommission, der Franzose Jacques Delors, befürchtet seit langem, daß die „Bürger Europas“ Europa und den Binnenmarkt ablehnen könnten, wenn der Binnenmarkt nur Vorteile für die Wirtschaft, nicht aber für die soziale Absicherung des Mannes oder der Frau auf der Straße bringt.

Delors hatte deshalb den Wirtschafts- und Sozialausschuß politisch wiederbelebt, eine schon fast in Vergessenheit geratene EG-Institution, dem Vertreter der Arbeitnehmer-, Arbeitgeber- und Verbraucherverbände angehören, und der vor der Direktwahl des Europäischen Parlaments die demokratische Kontrolle des Ministerrates gewährleisten sollte. Der Kommissionspräsident beauftragte den Ausschuß, eine Stellungnahme zu den sozialen Grundrechten in der Gemeinschaft auszuarbeiten. Mit einer breiten Mehrheit sprach sich der Ausschuß Ende Februar 1989 dafür aus, daß bereits existierende Konventionen und Regelungen, wie sie von der ILO oder dem Europarat ausgearbeitet worden sind, von allen Mitgliedsländern unterzeichnet und angewandt werden sollten.

Dies käme fraglos auch den deutschen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zugute: Von den zwölf wichtigsten ILO -Konventionen, die soziale Rechte im Arbeitsleben regeln, hat die Bundesrepublik nämlich nur drei unterzeichnet, Spanien - vor dessen „Verhältnissen“ gern gewarnt wird dagegen alle bis auf eine.

Ohnehin relativiert ein nüchterner Blick das Geschrei über die einmaligen guten deutschen Verhältnisse, die durch den Binnenmarkt so bedroht seien. Trotz einiger Unterschiede in den gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegten Bestimmungen gibt es nämlich EG-europaweit schon einige Gemeinsamkeiten. Der erwerbstätige Bürger Europas arbeitet im Schnitt 36 bis 40 Stunden pro Woche und macht vier bis sechs Wochen Urlaub im Jahr. Die Sonntagsarbeit ist in allen Mitgliedsländern verboten - durch kulturelle Unterschiede fallen die Ausnahmeregelungen aber mitunter freizügiger aus als in der Bundesrepublik. Ein Frühstück am Sonntag ohne frische Croissants, ein Mittagessen ohne frisches Gemüse und der Familienkaffee ohne Gebäck vom Konditor: Die Vorstellung allein könnte in Belgien oder Frankreich zu einer kulinarisch begründeten Revolution führen. Wer hier oder auch in Südeuropa über deutsche Ladenschlußgesetze und die Diskussion darüber spricht, erntet dort allenfalls Kopfschütteln.

Aber es gibt auch gravierende Unterschiede in der Gesetzgebung. Leiharbeit, in der Bundesrepublik und einigen anderen Mitgliedsländern unter Auflagen möglich, ist in Italien schlicht und ergreifend verboten. Teilzeitbeschäftigte sind in Großbritannien, Irland und der Bundesrepublik am wenigsten abgesichert - überall sonst ist der Schutz von Teilzeitbeschäftigten weitaus ausgeprägter. Und auch sonst steht die Bundesrepublik nicht unbedingt an der Spitze der Bewegung zur Absicherung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen: Alle EG-Länder kennen einen gesetzlich oder tarivvertraglich festgelegten Mindestlohn - außer der Bundesrepublik Deutschland. In der laufenden Binnenmarktdiskussion wird immer wieder vor einer drohenden Portugalisierung gewarnt. Wer davor warnt, beweist eigentlich nur, daß er oder sie die kritisierte Gesetzgebung gar nicht kennt. Sie zählt nämlich mit zu den fortschrittlichsten in Europa. Muß in Portugal am Wochenende Schichtarbeit geleistet werden, dann steht den Mitgliedern einer Familie derselbe Ruhetag in der Woche zu. Auch Urlaub muß vom Arbeitgeber so gelegt werden, daß die Familie ihn gleichzeitig verbringen kann. Und auch sonst zeigt sich Portugal familienfreundlich: Nach einem zweimonatigen Mutterschaftsurlaub, der im übrigen auch im Falle einer Adoption gilt, haben eine erwerbstätige Mutter oder ein erwerbstätiger Vater Anspruch auf einen dreijährigen unbezahlten Elternurlaub. Mit anderen Worten: für junge Eltern gilt eine Einstellungsgarantie. Kein Wunder, wenn portugiesische Arbeitgeber mit Hinweis auf den Binnenmarkt nun ihrerseits die sozialen Rechte in ihrem Land abgebaut wissen wollen.

Sicher, die portugiesischen Löhne sind die niedrigsten der Gemeinschaft - die höchsten hat im übrigen Dänemark und nicht die Bundesrepublik -, aber das allein wird deutsche Unternehmer nicht dazu bringen, massenhaft nach Portugal auszuweichen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit beruht nämlich nicht nur auf Lohnkosten, sondern auch auf einer breiten Produktionspalette, Produktqualität, pünktlicher Lieferung und Serviceleistung. Unter all diesen Gesichtspunkten ist die deutsche Wirtschaft vorerst äußerst wettbewerbsfähig. Die Zahl der Arbeitslosen liegt in Portugal unter dem europäischen Durchschnitt. Vorausgesetzt der deutsche Unternehmer fände überhaupt die FacharbeiterInnen, die er gerade braucht, würde dann ganz schnell die wachsende Nachfrage nach der Mangelware „qualifizierte Arbeitskraft“ die Löhne nach oben treiben.

Daß am deutschen Wesen der Mitbestimmung die restliche EG -Arbeitswelt genesen soll, kann im Ernst auch niemand mehr behaupten. Die Deutschen sind sicherlich mit ihrer Form der betrieblichen Mitsprache gut gefahren, aber andere politische Kulturen haben dem etwas gleichzusetzen. In den Niederlanden beispielsweise sitzen im Aufsichtsrat der Gesellschaften nicht nur Anteilseigner und Arbeitnehmer, sondern auch Vertreter des gesellschaftlichen Lebens - etwa vergleichbar dem deutschen Rundfunkrat. In Dänemark ist die Aufsichtsratsbeteiligung der Arbeitnehmer ebenfalls seit längerem üblich. Irland hat - mit einigem Erfolg - in den großen öffentlichen Unternehmen wie Irish Telecom die unmittelbare Direktwahl von Arbeitsdirektoren durch die Belegschaft eingeführt. In Luxemburg sind die Arbeitnehmer gleich im Verwaltungsrat vertreten und bestimmen über die Entscheidungen der Gesellschaft - mit Sperrminorität.

Auch das Klischee, die italienischen und französischen Gewerkschaften würden ihre Einflußnahme über Streiks und Demonstrationen ausüben, trifft nicht mehr zu. Längst ist in Italien - über das Arbeitnehmerstatut - ein institutioneller Einfluß über die Betriebsräte sichergestellt. In Frankreich werden Arbeitrsrechte seit langem qua Gesetz verfügt. So paßt es in die französische Tradition, daß Arbeitszeitverkürzung per Dekret verordnet wurde und nicht Ergebnis von Tarifverhandlungen war.

Schwierig wird die Geschichte natürlich, wenn grenzüberschreitende oder multinationale Unternehmen beziehungsweise die zu schaffenden europäischen Aktiengesellschaften betroffen sind. Einige große französische Unternehmen wie Thomson Grand Public, BSN Danone, Gilette und Bull haben sich inzwischen darauf eingelassen, Verhandlungen über europäische Systeme der Information und Konsultation mit den europäischen Einzelgewerkschaften (Gewerkschaftsausschüsse genannt) zu führen. Anfangs wurde dies von den deutschen Gewerkschaften argwöhnisch als Versuch abgetan, lediglich ein europäisches Krisenmanagement zu fahren. Doch inzwischen mehren sich die Stimmen innerhalb der europäischen Gewerkschaften, die dafür sind, direkt mit den Multis zu verhandeln. Der Europäische Metallarbeiterbund fordert seit langem die Schaffung europäischer Betriebsräte und Wirtschaftsausschüsse. IG -Metall-Chef Steinkühler, der sich unlängst auf einem „Betriebsausflug“ der deutschen Gewerkschaftsführer nach Brüssel für Europa fit machte, ist nun auch auf dem Eurotrip und fordert als Vorbereitung für den Binnenmarkt beratende Euro-Ausschüsse.

Die Gewerkschaften tun gut daran, endlich aus ihrem europapolitischen Dornröschenschlaf aufzuwachen und Handlungsstrategien zu entwickeln. Der Kommissar in Brüssel, in dessen Arbeitsbereich die Gesetzgebung zur Europäischen Aktiengesellschaft fällt, heißt nämlich Martin Bangemann. Und da könnte ein Erwachen für die Arbeitnehmerseite doch recht böse ausfallen.

Hortense Hörburger