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„Von der Sowjetunion lernen - wählen lernen

„Von der Sowjetunion lernen heißt wählen lernen“. So war es auf Flugblättern zu lesen, die die DDR-Opposition in den letzten Tagen vor der Wahl verbreitet hatten. Ihr Wunschtraum war, daß die Bürger, ähnlich wie im März in der Sowjetunion der Führung mittels Wahlenthaltung und Neinstimmen einen Denkzettel verpassen sollten. Um diese Hoffnung wahrzumachen, hatte die oppositionelle Szene in den Wochen vor der Wahl mit Veranstaltungen, Flugblättern und Boykottaufrufean die bisher breiteste Antiwahlkampagne in der Geschichte der DDR organisiert. Damit aber die erwarteten Früchte dieser Aktion nicht in den manipulierten Zahlen der offiziellen Wahlkommission verlorengingen, hatten die Initiativen zugleich ein Netz von Kontrollgruppen organisiert, das nach Schließung der Wahllokale die Auszählung überwachen würde. Zumindest für die Großstädte sollten bei diesem Wahlgang erstmals „echte“ Ergebnisse präsentiert werden.

Das inoffizielle Wahlzentrum für die Hauptstadt wurde im Gemeindesaal in der Elisabeth-Kirch-Straße errichtet, wo am Sonntag abend ab 18 Uhr 30 die ersten Kuriere aus den örtlichen Wahllokalen eintrafen. Im brechend vollen Saal kursierten schon bald sensationelle Ergebnisse: Neinstimmen in einigen Wahlbezirken aus Weißensee und Friedrichshain zwischen 5 und 15 Prozent; Stimmenthaltungen bis zu 20 Prozent; scharenweise hätten die Bürger von ihrem Recht auf geheime Abstimmung in den Kabinen Gebrauch gemacht. Die Wertung von Neinstimmen sei alles in allem fair verlaufen. Ein Fall wird an diesem Abend immer wieder kolportiert: Ein Wahlvorstand wertet einen nur leicht eingerissenen Wahlzettel gegen den Protest seiner Beisitzer als Neinstimme. „Ach“, meint er zur Begründung, „das können wir uns doch leisten„; Souveränität im Umgang mit oppositionellen Stimmen, die die etwa 500 Aktivisten in der Elisabeth-Kirch-Gemeinde zu diesem Zeitpunkt auch noch von der Staats- und Parteiführung erwarten. Die Stimmung jedenfalls ist euphorisch, die Hoffnung wächst, daß der landesübliche Wahlbrauch diesmal ein Ende hat. Die rote Fahne in einer Ecke des Saals hängt schief. Daneben ein Solidaritätsplakat für die Hungerstreikenden in der BRD: „R.A.F. dich auf“.

Gegen 19 Uhr 30 erreicht die Stimmung einen Höhepunkt: Der Nachrichtensprecher der Aktuellen Kamera mit der ersten offiziellen Wahlberichterstattung: “...erneut eine hohe Wahlbeteiligung.“ Von überwältigender Zustimmung der Bevölkerung wird berichtet. Dann - Honecker, Stoph, Sindermann beim Betreten des Wahllokals 19 im Bezirk Pankow. Die Stimmung im Saal überschlägt sich. Unter ironischem Jubel der Anwesenden vollzieht der Parteichef den Wahlakt, „nach Vorlage des Personalausweises“, wie die Sprecherin korrekt vermerkt. Dann endlose Eindrücke aus der Wahlprovinz, folkloristisch unterlegt: „Vielerorts festliche Atmosphäre„; Arbeitskollektive bei der gemeinsamen Stimmabgabe vor Schichtbeginn; Ordensschwestern an der Urne; eine junge Mutter gibt im Wochenbett ihre Zustimmung zum Wahlvorschlag. Vor den Stimmen zur Wahl „aus allen Schichten und Klassen“ flüchten viele der Anwesenden ins Freie. Unter den Mauern der Elisabeth-Kirch-Ruine kühlt die Stimmung merklich ab. Zwar hat die Aktuelle Kamera noch keine Hochrechnung präsentiert, aber die Berichterstattung im altbewährten Stil läßt die Hoffnungen auf eine faire Stimmauszählung sinken. Selbst wenn am Ende realistische Zahlen präsentiert würden, hätte die Opposition wohl kaum etwas zu feiern. Denn die passive, apolitische Zustimmung zum Regime ist in der DDR noch immer ungebrochen. „Fatalismus oder Pragmatismus bei mindestens achtzig Prozent der Bevölkerung“ vermutet Stadtjugendpfarrer Hülsemann. „Was die Opposition hier heute abend organisiert, ist wichtig. Aber es ist genauso wichtig, sich klarzumachen, daß man 50 Kilometer weg von Berlin nichts davon merkt.“ Ein Aktivist des Öko-Netzwerks „arche“ ahnt schon, daß auch diesmal die „Wahldressur“ funktioniert hat. „Wahrscheinlich wird an den Zahlen gar nicht so viel geschoben.“ Die Zustimmung gerade unter der Arbeiterschaft sei nach wie vor groß, aber „nen deutlichen Ruck nach unten, in Richtung 90 Prozent“ habe er schon erwartet.

Mit solchen optimistischen Spekulationen macht derweil Politbüromitglied Egon Krenz Schluß. Via Bildschirm verkündet er über die Köpfe der Alternativen das amtliche Wahlergebnis: 98,85 Prozent Ja-, 1.15 Prozent Neinstimmen. Seine Danksagung an die Bürger erstickt in den Hohnrufen der Oppositionellen. Einer zieht kurzerhand den Stecker, und Krenz verschwindet aus dem Saal. Irgendwie hat man ja doch nicht mit einem Durchbruch gerechnet.

Das Oppositionsfest geht trotzdem weiter, und selbst die Atmosphäre im Saal scheint durch die Krenz-Werte nicht wesentlich beeinträchtigt. Alles wartet auf die Verlesung des alternativen Ergebnisses. Um 22 Uhr 30 kommt die Hochrechnung aus dem Rechenzentrum im ersten Stock: Weißensee 7,7 Prozent Neinstimmen; Friedrichshain 6,8. Die Ergebnisse sind realistisch. Aber was damit anfangen. Eine Strategie für das weitere Vorgehen ist nicht in Sicht. Die Entschlossenheit, Eingaben zu schreiben, die einer vom Podium verkündet, erscheint wenig originell. Denn die „Rentner aus dem Politbüro“, weiß einer, „die feiern jetzt schon“.

Am Ende wird ein Aufruf formuliert, in dem die Wahlfälschungen angeprangert und die Abgeordneten aufgefordert werden, ihre Mandate nicht anzutreten.

Der Abend droht dennoch in Resignation umzuschlagen: Eine Führung, die sich nicht traut, auch nur 5 Prozent Opposition zuzugeben - eine Opposition, die ihr eigenes Wahlergebnis feiert. „Wieder 'ne Wahl verloren“, meint einer der Umstehenden; ein Statement, das durch Realitätstüchtigkeit besticht.

Bieberkopf

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