: Ende einer Lebenslüge
■ Der Mythos vom Abschreckungskonsens in der Nato zerfällt
KOMMENTAR
Die Antwort ist kurz und knapp, aber eindeutig ausgefallen. „Wir denken nicht an Verhandlungen über atomare Lance -Kurzstreckenwaffen und wollen Mitte der 90er Jahre die Lance-Raketen hierzulande stationieren“, sagten die Amerikaner. So schroff haben sie reagiert, daß sich sogar ein Exponent der „Stahlhelm-Fraktion“, der CDU -Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer, zu der Äußerung bemüßigt fühlt, er könne sich nicht vorstellen, daß die USA die Raketen „gegen unseren Willen“ stationieren würden. Der Satz zeigt, wie groß die Enttäuschung beim deutschnationalen Flügel der CDU inzwischen ist: Man traut den amerikanischen Freunden nicht mehr, seit sie das Symbol und „Bindeglied“ der amerikanischen Nukleargarantie, die Pershing II, einfach zur Disposition gestellt haben. Und jetzt werden sie zum zweiten Mal enttäuscht: Allein den Zeitpunkt und Umfang der neuen Aufrüstungsrunde, die Modalitäten gewissermaßen, hatte der Bundeskanzler zur Disposition gestellt. Selbst darauf wollten die alten Freunde keine Rücksicht nehmen.
Noch ist schwer einzuschätzen, was die USA zu dieser schroffen Reaktion bewegt. In der amerikanischen Administration gab es immer widerstreitende Interessen: Gewinnen gegenwärtig diejenigen die Oberhand, die eine konfrontative Globalstrategie verfolgen - wie die Reagan -Administration zu Beginn der 80er Jahre? Wenn ja - was wäre die Konsequenz? Fast um jeden Preis scheint die neue Bush -Administration demonstrieren zu wollen, wer der Herr im Hause der Nato ist. Und das bedeutet: Die US-Regierung möchte ihr Verständnis von Abschreckung, ihre Interpretation der Militärstratgie innerhalb der Nato durchsetzen. Und das erklärt wiederum, weshalb die USA heute die „Modernisierung“ bestimmter Waffensysteme für unverzichtbar erklären. Die Militärstrategie der Nato - seit jeher voller Widersprüche - verdiente ihren Namen „Flexible Antwort“ vor allem deshalb, weil jede Seite flexibel damit operierte. Für die USA war die „flexible response“ eher eine Kriegsführungsstrategie mit dem Ziel, militärische Konflikte möglichst zu begrenzen. Die Bundesdeutschen hingegen wollten darunter immer eine Eskalations- oder Abschreckungsstrategie verstehen, die die deutschen Militärs im Rahmen der Nato -Planspiele immer auf einen möglichst frühen Ersteinsatz von Atomwaffen drängen ließen, um die USA gleich dabeizuhaben. Solcherart Hirngespinste schienen jahrelang wunderbar zu funktionieren, bis sich auf anderen Gebieten die Interessengegensätze diesseits und jenseits des Atlantiks verschärften.
Daß eine neue „Nach„rüstung notwendig ist - darüber sind sich die Regierungen in Washington, Bonn und London ja grundsätzlich einig. Umstritten sind jedoch die Details, die Anzahl und der Waffenmix also. Die USA sind von einem möglichen Kriegsschauplatz Europa durch den Atlantik getrennt, und es liegt in ihrem Interesse, ihr Territorium herauszuhalten. Das hat Folgen: Den USA liegt an taktischen Atomwaffen a la Lance-Raketen, die mit einer Reichweite von 500 km die Sowjetunion nicht erreichen. Die Raketen müssen im Sinne einer Kriegsführungsoption nur in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, also dürfen sie keinesfalls zur Disposition gestellt werden. Denn wo verhandelt wird, könnte am Ende auch eine Null herauskommen. Die Bundesregierung hat genau des gegenteilige Interesse: „Je kürzer die Reichweiten, desto toter die Deutschen“, sagte Alfred Dregger, und meinte damit, daß hier möglichst wenig landgestützte Systeme unter 500 km stationiert werden sollen: Atomwaffen sollen die Sowjetunion erreichen, um die USA möglichst eng mit dem Risiko eines Atomkriegs zu „verkoppeln“. Wer genau hinhört, weiß, daß die Bundesregierung samt ihrem Friedensengel Genscher nichts gegen die Einführung von neuen atomaren „Abstandswaffen“ vorgebracht hat, die auf Flugzeugen montiert werden und Ziele in der UdSSR ereichen können. Auch diese „Modernisierung“ läuft - lautlos, ohne lautes Geschrei.
Trotzdem: Weshalb können sich Nato-Freunde wegen eines Waffensystems nur so in die Wolle kriegen? Die Antwort ist, daß diese Auseinandersetzung nichts weniger als eine Zäsur markiert: Der Abschreckungskonsens in der Nato zerfällt. Die Pershing-Stationierung im Jahre 1983 wurde ja nur durchgesetzt, um einen diffusen Abschreckungskonsens politisch zu feiern. Eigentlich ist dieser Konsens schon immer ein Mythos gewesen. Er funktionierte, solange beide gleichermaßen an seiner Pflege interessiert waren. Es sind die USA, die ihn heute in Frage stellen, und so einen deutschnationalen Anti-Amerikanismus provozieren. Denn der Zerfall dieses Mythos vom Bestand des amerikanischen „Atomschirms“ bedeutet auch das Ende einer Lebenslüge, mit der bisher alle Bundesregierungen die Mitgliedschaft in der Nato legitimiert haben. Mit der Drohung, ihre Truppen aus Europa abzuziehen, haben die USA ihre Verbündeten jedoch 40 Jahre auf Linie gebracht. Und nun? Dank der sowjetischen Perestroika dürfte diese Masche auch mittelfristig nicht mehr so gut funktionieren.
Ursel Sieber
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