: Was kommt nach dem kalten Krieg?
■ Prominente US-Politiker wie Brzezinski, Kissinger, McNamara und Vance prognostizieren „massive Umwälzungen“ / Von Don Oberdörfer
DEBATTE
Außenminister James Baker reist diese Woche nach Moskau - zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Diskussion über die Bedeutung und Konsequenzen der drastischen Änderungen in der Sowjetunion und ihrem osteuropäischen Imperium zusehends vertieft.
Vor ihrer ersten Bewährungsprobe in den Verhandlungen zwischen den beiden Superatommächten wird die Bush-Regierung von ihren westeuropäischen Verbündeten herausgefordert, eine neue Vision für den Westen zu finden und eine neue Politik zu entwerfen, die den Veränderungen in den internationalen Beziehungen im Osten wie im Westen gerecht wird.
Bisher hat Washington sehr vorsichtig auf die Möglichkeiten reagiert, die Michail Gorbatschow eröffnete. Die Regierung ist noch immer mit der unabgeschlossenen Überprüfung der Außenpolitik beschäftigt und hat sich in einen Disput mit Westdeutschland über die Zukunft der amerikanischen Kurzstreckenraketen auf deutschem Boden verbissen.
Außerhalb der Regierung jedoch vertreten prominente ehemalige US-Politiker und andere außenpolitische Experten eine wagemutigere Perspektive. In neueren Interviews sagten fast alle, die ungeheuren Veränderungen überall auf der Welt brächten die Nachkriegsära ihrem Ende näher.
„Wir befinden uns ganz buchstäblich in der Anfangsphase einer Entwicklung, die man die postkommunistische Epoche nennen könnte“, sagte Zbigniew Brzezinski, nationaler Sicherheitsberater unter Carter. „Es handelt sich um eine massive, um eine monumentale Umwälzung. Der Kommunismus hat einen großen Teil dieses Jahrhunderts geprägt. Und das geht jetzt zu Ende.“
Henry A. Kissinger, Außenminister unter Nixon und Ford, sagte: „Wir befinden uns in einem Zeitraum, der ungewöhnlich viele Möglichkeiten in sich birgt. Die internationalen Faktoren waren selten so stark in Bewegung. Nur eins ist ausgeschlossen: daß es so weitergeht wie bisher. Der Status quo wird entweder unter dem Druck der Ereignisse zerfallen oder durch eine konstruktive amerikanische Politik neue Form gewinnen.“
„Wir stehen vor einer neuen Ära“, sagte Cyrus R. Vance, Außenminister unter Carter. „Wir sind in einen Zeitraum wirklich großer Veränderungen eingetreten, und das wird sich fortsetzen.“
Robert S. McNamara, Verteidigungsminister unter Kennedy und Johnson, sagte: „Wir stehen vor der Möglichkeit - der größten seit vierzig Jahren - den kalten Krieg zu beenden. Diese Chance zu verpassen würde das Risiko unendlich erhöhen, daß ein unbeabsichtigter Konflikt zwischen Ost und West das Überleben unserer Zivilisation gefährdet.“
Während die meisten Fachleute einen Abbau der Spannungen zwischen Ost und West begrüßen, zeigen einige auch ihre tiefe Beunruhigung über neue Risiken im bevorstehenden Zeitraum.
Mehrere Experten wiesen darauf hin, daß die ständige Auseinandersetzung zwischen West und Ost für den Zusammenhalt der beiden Hauptblöcke entscheidend war. Wenn sich dieser politische Leim auflöst und die Sowjetunion wie die USA in ihren jeweiligen Lagern aus ökonomischen und politischen Gründen Einbußen in ihrer Führungsrolle erleiden, könnten sich die Gefahren erhöhen, die aus dem Vorgehen kleinerer Nationen erwachsen.
Mitteleuropa, seit 1945 durch den Eisernen Vorhang geteilt, ist für die Fachleute das Gebiet, das sie mit der größten Sorge erfüllt. Deshalb treffen die weitreichenden politischen und ökonomischen Veränderungen in Polen und Ungarn bei gleichzeitiger Lockerung ihrer Bindungen an Moskau auf besonderes Interesse innerhalb und außerhalb des Ostblocks.
Und aus diesem Grund werden die neueren plötzlichen Schwenks in der Atomwaffenpolitik der westdeutschen Regierung als viel wichtiger angesehen als die Details der laufenden Auseinandersetzung über die Kurzstreckenraketen.
„Was in Rußland passiert, schwappt nach Osteuropa über und wirkt sich auch auf Westeuropa aus“, sagte William G. Hyland, Herausgeber des 'Foreign Affairs Magazine‘, der früher an hoher Stelle in der CIA und im Nationalen Sicherheitsrat tätig war.
„Wenn es in Ungarn, Polen und vielleicht der CSSR eine neue Ordnung gibt“, sagte er, „mit schwächerer Sowjetpräsenz, weniger Truppen und einer Liberalisierung in diesen Ländern, mit einem Mehrparteiensystem und so weiter, dann stellt sich die Frage, ob das auch in Ostdeutschland vor der Tür steht. Und wenn ja: Sind wir dann nicht nur noch einen oder zwei Schritte von der deutschen Wiedervereinigung entfernt?“
Hyland wies darauf hin, daß ein mächtiges, wiedervereintes Deutschland Mitteleuropa wahrscheinlich ökonomisch dominieren und den Verzicht auf Atomwaffen, der ihm 1945 auferlegt wurde, nicht länger hinnehmen würde. Ein ehrgeiziges und frustriertes Deutschland habe in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege ausgelöst.
„Was 1943-45 begann, geht zu Ende, und etwas anderes tritt an seine Stelle“, sagte Hyland. „Historisch gesehen melden sich zur Zeit die beiden größten Verlierer des letzten Krieges auf der Bühne zurück.“
Kissinger schlug vor, die USA sollten - wie bereits Baker und Präsident Bush in ihren jüngsten Reden - darauf hinarbeiten, daß die Sowjetunion offiziell die Breschnew -Doktrin widerruft, die Moskaus militärische Intervention in Osteuropa rechtfertigte.
In bezug auf den Westen sagte Kissinger: „Ich denke, daß gegen Ende der neunziger Jahre die Beziehungen zwischen Europa und Amerika deutlich anders aussehen werden und auch deutlich anders sein sollten. Europa wird autonomer sein.“
Er fügte hinzu: „Die militärische Verantwortung sollte anders geregelt werden. Die USA sollten natürlich der Verteidigung Europas verpflichtet bleiben. Aber es sollte auf größere europäische Verantwortung hinauslaufen, wobei die USA eine entscheidende Unterstützungsrolle einnähmen.“
Die US-Politik gegenüber Westdeutschland, die er als entscheidend für die westeuropäische Zukunft betrachtet, sollte Bonn zur Wahl zwischen einer neuen Ostorientierung oder der bestehenden Westorientierung zwingen.
Barry M. Blechman, der früher in der Behörde für Rüstungskontrolle und Abrüstung arbeitete, kam bei der Einschätzung Westdeutschlands fast zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen.
„Deutschland ist traditionell die stärkste Macht in Mitteleuropa, und die USA sollten es ermutigen, diese Rolle wahrzunehmen“, sagte er. „Wir müssen die Differenzen zwischen den beiden Blöcken abbauen, und Deutschland könnte dabei vermitteln. Wenn wir ihnen diese Rolle verweigern, werden wir in Bonn radikalere Regierungen erleben.“
In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die globale Rivalität zwischen Washington und Moskau zu einem großen Teil in der Dritten Welt abgespielt, während es an den schwerbefestigten Grenzlinien der Ost-West-Konfrontation in Europa verhältnismäßig ruhig blieb.
Auch dies scheint sich zu verändern - mit dem sowjetischen Abzug aus Afghanistan, einer noch nicht abgeschlossenen, aber vielversprechenden politischen Lösung im südlichen Afrika und der Möglichkeit eines vietnamesischen Abzugs aus Kambodscha und einer politischen Lösung für dieses Land.
Selbst im Nahen Osten, wo Washington und Moskau sich häufig gegenüberstanden, scheinen sie zunehmend die Rolle des anderen und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zu akzeptieren.
„Diese Konflikte in der Dritten Welt“, sagte Brzezinski, „werden ihren ideologischen Nährstoff verlieren, der oft dazu beitrug, noch größere Leidenschaften und Spannungen zu erzeugen als die Konflikte aus sich selbst heraus hervorgebracht hätten. Das wird passieren, und es geschieht bereits jetzt. Die Konflikte werden anhalten, aber sie werden auf die ihnen eigenen Dimensionen reduziert werden.“
Dieser hier leicht gekürzte Beitrag erschien am 8. Mai 1989 in der 'International Herald Tribune‘ (Übersetzung: Meino Büning).
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