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Das autonome Paradies beginnt jenseits von Kreuzberg

■ Nach der 1.Mai-Randale ist es so klar wie nie zuvor: Ein Freistaat muß her, aber wohin damit? / Ein Ausweg böte sich an: Gebietskauf von der DDR / Mit Sozialhilfe und kleinen IWF-Krediten könnte es laufen / Aber Revolutionsexport nur auf intellektueller Ebene / Senat muß freie Transitwege garantieren / Gewaltautonomie ist Trumpf

Mangel an Unkonventionellem, so tönte es allenthalben in der kritischen Öffentlichkeit nach Abschluß der rot-grünen Koalitionsverhandlungen. In der bedrängten Lage nach dem 1.Mai sollte der junge Senat nun aus der Not eine Tugend machen und neue Räume öffnen - und zwar buchstäblich.

Grob über den Daumen gepeilt haben sich rund anderthalb Prozent der Kreuzberger Bürger an der harten Randale beteiligt (der Einfachheit halber sei einmal angenommen, all jene 2.000 seien aus diesem Bezirk). Am 1. Mai und vor allem auch während der diskursiven Nachbereitung dieses Tages nun haben diese eineinhalb Prozent mehr als deutlich gemacht, wie viel bzw. wenig ihnen an den restlichen 98,5 Prozent liegt, und vor allem daran, was dieser Rest von der Randale hält. Wobei die Abneigung zu weiten Teilen auf Gegenseitigkeit beruht.

Die Frage ist daher doch immer weniger, inwieweit hier ein einträchtiges Miteinander möglich, sondern ob es überhaupt noch erwünscht ist. Vieles spricht dagegen. Und so unsinnig es ist, eine Ehe oder dergleichen Kisten aufrechtzuerhalten, in der sich die Partner nur noch anstinken, so blödsinnig ist es, eine überlebte Wohn-„Gemeinschaft“ im Bezirk aufrechtzuerhalten. Es liegt auf der Hand: Verhandlungen mit den Autonomen müssen her - zur Not auch plenar im ICC - ob nicht ein neues Christiania, ein autonomer Freistaat also, für alle Beteiligten das Beste wäre. Einmal mehr könnte sich hierbei die besondere geographische Lage der Halbstadt als Vorteil erweisen.

Anderthalb Prozent Kreuzberger Bevölkerung, das entspricht in etwa 15 Hektar, einer Fläche also von 500 mal 1.000 Metern. Es gibt diese Fläche. Auch wenn das bisher die wenigsten wissen, es gibt nämlich auch noch ein „Jenseits von Kreuzberg“, und da könnte dann das Paradies beginnen. In Dreiecksverhandlungen unter Einbeziehung des Magistrats von Ost-Berlin sollte es möglich sein, für einen dreistelligen Millionenbetrag das Gebiet hinter dem Görlitzer Bahnhof und dem Lohmühlenkanal loszueisen: etwa das Viereck Lohmühlen-, Harzer- und Bouchestr., dessen Kopfseite auch noch von dem schönen Namen Puschkin-Allee gekrönt wird. Die Bausubstanz ist einigermaßen erträglich, größere Räumlichkeiten in alten Fabrikgebäuden sind vorhanden. Und sollten die Verhandlungen ins Stocken geraten, so könnte als Draufgabe noch ein Teil vom Treptower Park zum autonomen Freizeit-Pläsier dazugekauft werden.

In keiner anderen Stadt wäre dergleichen möglich, können doch unsere zuständigen Organe aus Verfassungsgründen nicht auf Teile bundesdeutschen Hoheitsgebietes verzichten. In Sachen „Jenseits von Kreuzberg“ nun könnte ein Vertragswerk abgefaßt werden, das die Staatlichkeit der DDR für das abgesteckte Areal aufhebt, ohne daß eine Staatlichkeit Westberlins begründet wird, wie das ansonsten bei den bisherigen Gebietszukäufen der Fall war - staatsrechtlich eine einwandfreie Lösung.

An der Frage des „Volkseinkommens“ im Freistaat sollte das Ganze jedenfalls nicht scheitern. Der Sozialhilfesatz für die 2.000 - pauschal und insgesamt - sollte allemal drinsein. Mögliche Zuzüge blieben allerdings unberücksichtigt, wie auch die Verteilung vor Ort geregelt werden sollte. Für den Verzicht auf öffentliche Dienstleistungen - von öffentlicher Sicherheit durch Polizeihand über Feuerwehr bis zur Müllabfuhr, die den früheren Kreuzberger einst zuteil wurden, könnte noch die eine oder andere Mark zusätzlich lockergemacht werden. Und reicht das Geld immer noch nicht, könnte man ja auch ein paar Kredite vom IWF ziehen - Mitgliedschaft und für den Außenverkehr irgendeine Staatsform („Räterepublik oder so“) vorausgesetzt. Die ersten Tranchen gibt's nämlich immer ohne Auflagen, und dann - selbstverständlich vor der Rückzahlung

-kann unverzüglich der Austritt vollzogen werden.

Einiges müssen die Freistaatler allerdings zusichern. Die alljährliche Randale mit kaputten Scheiben, die in diesen Tagen unter anderem mit dem Frust über das Elend in der Dritten Welt begründet wird, muß dann ab 1990 hinter der Lohmühleninsel stattfinden. Der rechtsfreie Raum muß zum Ausgleich dafür, daß er 365 Tage im Jahr andauert, auf den Freistaat beschränkt bleiben. Diesseits des Kanals gilt mehr denn je das Gewaltmonopol des rotgrünen Senats, wenn jenseits das Prinzip der Gewaltautonomie jedes einzelnen zur Staatsphilosophie erklärt wird. Ob die jetzige Mauer dann als Grenze von Westberlin zum Freistaat erhalten bleiben muß? Vielleicht reichen ja auch der tiefe Kanal und eine Zugbrücke.

Selbstverständlich ist davon auszugehen, daß der Freistaat Zulauf erhalten wird. Da jedoch die Fläche Kreuzbergs und auch des gesamten West-Berlins ebenso begrenzt ist wie die 15 ha jenseits von Kreuzberg, kommt eine Ausweitung nicht in Frage. Etwaige Probleme von Überbevölkerung werden ganz autonom, zur Not mit gegenseitigen Besetzungen geregelt. Selbstverständlich muß der Senat für die Freiheit der Transitwege durch Westberlin Garantien übernehmen. Auch steht und fällt die Freiheit des Freistaates natürlich mit der garantierten Möglichkeit zu Importeinkäufen bei Aldi und Hofmann.

Eins indes ist klar: Revolutionsexport in westlicher Richtung beschränkt sich auf die intellektuelle Auseinandersetzung. Und wenn's Ärger in der anderen Richtung gibt - etwa wegen überzogener Graffiti am antifaschistischen Schutzwall, gefährlicher Rauchentwicklung oder ähnlichem dann mag man das bilateral mit den zuständigen Organen der Hauptstadt ausmachen.

Ulli Kulke

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