: Das übliche Nein der Nato
■ Gewohnte Reaktion aus Brüssel auf Gorbatschows neues Angebot einseitiger atomarer Abrüstung / Baker: Positiver Schritt, aber nicht weit genug
Moskau/Brüssel (taz/dpa) - Mit dem gewohnten Gespür für den richtigen Zeitpunkt hat Gorbatschow erneut mit einem weitreichenden Abrüstungsvorschlag die Nato in Verlegenheit gebracht. Mit der gewohnten Leerformel reagierte denn auch das Bündnis in Brüssel: es sei ein Schritt in die richtige Richtung, aber leider ginge er nicht weit genug.
Die Sowjetunion will noch in diesem Jahr einseitig 500 Atomsprengköpfe von taktischen Nuklearwaffen abziehen und schlägt die Reduzierung der Streitkräfte von Nato und Warschauer Pakt um jeweils eine Million Mann bis 1997 vor. Die Einzelheiten der weitreichenden Abrüstungsinitiative, die der sowjetische Staats- und Parteichef US-Außenminister Baker unterbreitete, wurden am Freitag in Moskau veröffentlicht. Baker bewertete sie nach seinem Eintreffen zu Konsultationen mit der Nato in Brüssel zwar positiv, aber als bescheidenen Schritt.
Nach den in Moskau veröffentlichten Einzelheiten der jüngsten sowjetischen Abrüstungsinitiative handelt es sich um 284 raketengestützte, 166 flugzeuggestützte und 50 artilleriegestützte Sprengköpfe. Moskau werde sie aus den Bündnisstaaten auf das eigene Territorium zurückziehen. Bis 1991 sei die Sowjetunion zudem zum Abzug ihrer gesamten Atommunition aus den Territorien ihrer Verbündeten bereit, falls die USA einen entsprechenden Gegenschritt unternähmen, erklärte Gorbatschow.
Baker sagte vor JournalistInnen in Brüssel auf die Frage, ob es jetzt an der Zeit sei, über die atomaren Kurzstreckenwaffen zu verhandeln: „Mag sein, daß es für die Sowjetunion jetzt Zeit für weitere einseitige Reduzierungen ist. Das wäre sehr gut.“ Die Nato habe bereits in den vergangenen zehn Jahren 2.400 Atomwaffen abgerüstet. Zuvor, auf dem Flug nach Brüssel, hatte Baker vor Journalisten gesagt, Gorbatschows Raketen-Ankündigung sei nicht ausreichend, um die von Moskau offerierten Verhandlungen über den Abbau der Kurzstreckenraketen auf beiden Seiten zu Fortsetzung auf Seite 2
Tagesthema Seite 3
eröffnen. Gorbatschow hatte außerdem gesagt, bei den Wiener Verhandlungen über die konventionelle Rüstung werde Moskau einen schrittweisen Abbau der Streitkräfte beider Blöcke auf gleiche Größen bis 1997 vorschlagen. Demnach sollten beide Bündnissysteme
bis zu diesem Zeitpunkt jeweils noch 1,35 Millionen Mann unter Waffen haben. Dies bedeute, daß Nato und Warschauer Pakt jeweils mehr als eine Million Soldaten ausmustern müßten.
In amerikanischen Zeitungen wurde in der Nacht zum Freitag darauf verwiesen, daß die Nato ihre eigenen Streitkräfte auf derzeit rund 2,2 Millionen Mann beziffert. Der Warschauer Pakt habe etwa 3,1 Millionen Mann unter Waffen. Dies würde allerdings bedeuten, daß die Nato 850.000 Mann entlassen müßte und der Warschauer Pakt über 1,7 Millionen. In einem Bericht der 'Los Angeles Times‘ aus Moskau hieß es, ausgehend von diesen Nato-Zahlen könnte der Gorbatschow -Vorschlag eine 38prozentige Reduzierung der Nato -Streitkräfte und eine 54pro
zentige Verminderung der Warschauer-Pakt-Truppen bedeuten. Auf sowjetischer Seite gehe man dagegen von einem ungefähren Gleichstand der Truppen beider Bündnissysteme aus.
Zu den Differenzen zwischen Bonn und Washington bezüglich der Verhandlungen über die Kurzstreckenwaffen erklärte Baker nach seinem etwa halbstündigen Gespräch mit Genscher, die USA hofften zwar auf eine Lösung noch vor dem Nato-Gipfel Ende Mai, „die Kluft ist jedoch nicht überwunden“. Auf eine entsprechende Frage sagte der US-Außenminister über Genscher: „Ich hoffe, er versteht unsere Position besser. Seine Haltung haben wir schon seit längerem verstanden.“ Genscher sagte lediglich, man sei übereingekommen, die Kontakte
auf der Suche nach einer für beide Seiten befriedigenden Lösung fortzusetzen. Einzelheiten wollte er nicht nennen. Er wolle den gegenwärtigen Dialog „nicht durch Wasserstandsberichte“ erschweren.
Als einen Schritt in die richtige Richtung hat Bundeskanzler Helmut Kohl am Freitag die Abrüstungsvorschläge des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow gewertet. Nach Ansicht des stellvertretenden SPD-Fraktionschef Horst Ehmke hat Gorbatschow wieder einmal gehandelt, während die NATO sich streite. Die Abrüstungsvorschläge berücksichtigten nicht zuletzt auch wichtige Sicherheitsbelange des Westens.Wenn Gorbatschow nun nicht beim Wort genommen werde, riskiere das Bündnis wieder seine Glaubwürdigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen