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Oblaten, Oblaten, Oblaten

Beim 40.Landsmannschaftstreffen der Sudeten in Stuttgart waren die kulinarischen Spezialitäten aus Karlsbad gefragt / Studentenbund der Sudeten klagt über mangelnden politischen Biß der Landsleute  ■  Aus Stuttgart Dietrich Willier

Erstaunt bleiben die letzten Passanten stehen. „Was wollen die hier“, fragt eine Gruppe türkischer Jugendlicher. Eine Antwort gibt es nicht, denn der Fackelzug der sudetendeutschen Jugend am Sonntag abend durch Stuttgarts Innenstadt ist ein Schweigemarsch. Dann sind die Fackeln erloschen, „Kein schöner Land“ singen sie auf dem Schillerplatz. „Vielleicht treffen wir uns nächstes Jahr in Rio oder Paraguay“, meint ein stattlicher Rentner. Die Stuttgarter BürgerInnen haben ihre Stadt wieder für sich.

Drei Tage lang war das anders. Da wurde im neuen Schloß der sudetendeutsche Karlspreis verliehen, da tanzten böhmische Trachtengruppen nach Art ihrer Vorfahren in Stuttgarts Fußgängerzonen, und zwischen Kaufhalle und Hertie schmetterten echte Egerländer ihre heimatlichen Weisen. Hunderttausend hatten die Organisatoren des 40.Sudetendeutschen Tages auf dem Stuttgarter Killesberg erwartet, knapp die Hälfte war zu Podiumsdiskussionen, Volkstanzfest, Kranzniederlegung, Heimatnachmittag und Hauptkundgebung gekommen. Eine „amorphe Masse, die sich, Karlsbader Oblaten verzehrend, vorbeiwälzt“, spottete der sudetendeutsche Studentenbund, der den politischen Biß bei seinen Landsleuten vermißte.

Doch „hoffnungslose Deutschtümler und Heimatromantiker“ wollen die 50.000 gebeugten Rentnerinnen und Rentner mit den verhärmten, freudlosen Gesichtern nicht sein. Schließlich gelte es, so CDU-Fraktionschef Alfred Dregger, „die verletzte Würde Europas und seiner Nationen wiederherzustellen“, und eine besondere Rolle, sagt der Sprecher der Landsmannschaft Franz Neubauer, falle dabei den Vertriebenen zu.

2,7 Millionen SudetInnen leben nach Angaben der Landsmannschaft derzeit in der BRD, eine halbe Million in Baden-Württemberg. Sie seien schon immer „kämpferische Garanten für unseren Rechtsstaat“ gewesen, lobt Baden -Württembergs Ministerpräsident Lothar Späth. Ohne den engagierten Nachkriegseinsatz der Vertriebenen und Flüchtlinge sei der Südweststaat heute so gar nicht denkbar.

Daß das so bleibt, daß der ökonomische Wohlstand der Republik nicht an seiner demographischen Entwicklung zugrunde gehe, dafür gibt es nach den Worten des Bundesfinanzministers Waigel nur ein Rezept: „Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs leben noch mehrere Millionen Deutsche in Gebieten jenseits von Oder und Neiße“ - eine Aufnahmebeschränkung von AussiedlerInnen komme nicht in Betracht. Denn diese AussiedlerInnen, so der CSU-Vorsitzende, sind für „unsere Gesellschaft ein Gewinn“. Die Solidargemeinschaft werde nicht belastet. Im Gegenteil, vor allem die Jungen trügen „wesentlich zur Sicherung unseres Rentensystems bei“.

„Vorwärts also, denn rückwärts kannst du jetzt nicht mehr“, ruft Stuttgarts Oberbürgermeister Rommel seinen SudetInnen auf dem Killesberg zu. Die knabbern müde oder resigniert an ihren Karlsbader Oblaten, nippen an ihrem Karlsbader Mineralwasser oder Pilsener Bier oder erzählen sich an den tausenden Biertischen in heruntergekommenen Messehallen Geschichten von einst. Mies, Tachau, Prachatitz, Nickolausburg - an Pappschildern hängt ihre ehemalige Heimat von der Decke herunter.

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