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Tschernobyl und die Mär von der dressierten Strahlung

Zur Diskussion um die Säuglingsterblichkeit nach dem Supergau in der Ukraine / Die Effekte radioaktiver Niedrigstrahlung müssen nicht mehr durch statistische Klimmzüge bewiesen werden / „Wer Atomenergie für zumutbar hält, wird sagen müssen, wieviele Opfer er maximal in Kauf zu nehmen bereit ist“  ■  Von Christoph Zink

„Alle Dinge sind Gift und nichts ohne Gift. Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist.“ - So hat der alte Paracelsus seine Schüler gelehrt, und so müßten wir es eigentlich wissen, hätten wir nicht diesen Satz im Laufe der Jahre griffig verkürzt: „Nur die Dosis macht das Gift!“ Nun klingt er viel beruhigender, gerade angesichts der vielfältigen Gifte, die wir tagtäglich auf der Erde anhäufen. Und wir haben vorgesorgt: Ein breites Arsenal von Grenzwerten, Rechtsvorschriften und Kontrollmaßnahmen soll gewährleisten, daß unsere Gifte die Dosis nicht überschreiten, bei der - so sagen wir - die Giftigkeit beginnt.

Die Beruhigungsmaßnahmen, die allenthalben nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eingeleitet worden waren ebenfalls von dieser Vorstellung geprägt: Keine Panik, wir befinden uns unterhalb der Dosisgrenzwerte, wir befinden uns im Bereich der „natürlichen“ (und also sicher nicht so üblen) Radioaktivität, wir haben nichts zu befürchten.

Nun hat eine Bremer Arbeitsgruppe die bundesdeutsche Atomszenerie in Aufregung versetzt, indem sie behauptet, es sei beweisbar, daß nach dem 26.4. 1986 die Säuglingssterblichkeit in Teilen der Republik Werte verzeichnet habe, deren Höhe am ehesten als Wirkung der erhöhten Strahlenbelastung erklärt werden kann (siehe taz vom 26.4. 1989, „Tagesthema“). - Die Reaktionen der Fachwelt ließen nicht lange auf sich warten: Die sonst recht behäbige „Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung“ in Bayern meldete schon früh energischen Protest an, und mancher Physiker und Statistiker legt sich wohl derzeit sein altgedientes Handwerkszeug zurecht, um zu begründen, daß man nichts Genaues weiß und daß es jedenfalls ganz und gar unverantwortlich sei, die Bevölkerung so zu verunsichern.

Ich will den Kollegen nicht den Spaß am wissenschaftlichen Disput verderben. Aber leider geht ein solcher Streit am Thema völlig vorbei: Denn niemand wird je wissen, was tatsächlich zu den beobachteten zusätzlichen Todesfällen geführt hat. Alle Beweise von Statistikern zeichnen sich nun einmal dadurch aus, daß sie bestenfalls immer nur noch genauer ermitteln, wie wahrscheinlich es ist, daß die jeweilige Vermutung richtig oder falsch ist: In bezug auf diese - und vergleichbare zukünftige - Ereignisse werden statistische Klimmzüge jeder Art immer nur Vermutungen ergeben können, und es wird immer jemand bleiben, der dickköpfig auf die Möglichkeit verweist, daß die angewandten Verfahren methodisch falsch sein könnten, daß die Zahlen nicht „hinreichend“ beweiskräftig seien und daß man die Ergebnisse vielleicht doch auch ganz anders erklären könnte.

Dabei geht es doch gar nicht darum, ob es statistisch wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, daß die Bremer Ergebnisse „stimmen“. Sondern es geht eigentlich um folgende Fragen: Können wir - bei allem, was zur Wirkung von Radioaktivität bekannt ist - ernsthaft davon ausgehen, daß Ereignisse wie Tschernobyl keine zusätzlichen Totgeburten bringen und keine zusätzlichen Fehlbildungen und Krebsfälle? Und falls das nicht so ist: Erschreckt uns ein möglicher Schaden wirklich erst, wenn er statistisch faßbar wird? Würden wir also Schäden durch Radioaktivität wirklich hinnehmen wollen, solange sie nicht beweisbar sind? Oder sollten wir einfach glauben, Nichtbeweisbares wäre vielleicht nicht vorhanden?

Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß es bei Radioaktivität einen Bereich gibt, in dem „allein die Dosis macht, daß das Ding kein Gift ist“. Radioaktivität in hoher Dosis verursacht als härteste Folgen Fehlbildungen ungeborener Kinder, Totgeburten und bösartige Neubildungen. Deshalb muß die Frage der Entstehung gerade solcher Folgen bei Strahlung unterhalb der Grenzwerte grundsätzlich gestellt werden.

Es erscheint völlig sicher, daß diese Gruppe von Erkrankungen im Prinzip durch einzelne Mutationen im genetischen Material einzelner Zellen ausgelöst werden können. Solche Mutationen können sich aus unterschiedlichsten Gründen ereignen. Auch die „spontane“ Entstehung von Fehlbildungen und Karzinomen (die es ja zweifellos gibt) wird unter anderem mit solchen vereinzelten Mutationen erklärt. Und die hohe Rate von bösartigen Erkrankungen und Fehlbildungen nach hohen Strahlendosen werden allgemein auf diesen Mechanismus zurückgeführt. Es kann nur eben niemand im Fall einzelner Krebserkrankung oder Fehlbildung entscheiden, ob dieser Schaden strahlenbedingt, chemisch ausgelöst oder „spontan“ entstanden ist, denn die Krankheitsbilder sehen gleich aus, unabhängig von ihrer Ursache.

Demgegenüber ist sicher, daß ein einzelner Kernzerfall (also das, was bei „1 Becquerel“ jede Sekunde einmal stattfindet) prinzipiell eine solche Mutation auszulösen im Stande ist (siehe nebenstehender Kasten).

Es wird nur eben selten geschehen, solang wenig Teilchen vorhanden sind, und es wird häufiger geschehen, wenn viele davon herumfliegen. Die einfache Lehre aus dieser Tatsache, die auch von den hartleibigsten Atomkraftbefürwortern unter den Strahlenbiologen nicht bestritten wird, ist: Viel Radioaktivität macht häufiger einen irreparablen Schaden als wenig Radioaktivität.

Nur lassen sie sich nicht messen, die (seltenen) Schäden, die durch radioaktive Niedrigstrahlung entstehen. Auf dieses Dilemma zog sich auch jener hilfslose Chemiker zurück, der vor Jahren in der Berliner Abendschau erklären sollte, warum das Dioxin, das damals aus einem unserer Schornsteine entwich, viel weniger gefährlich sei, als manche befürchteten. Er formulierte etwa so: „Die festgestellten Dioxinmengen liegen im Nanogramm-Bereich, und so geringe Mengen konnten wir vor ein paar Jahren noch nicht einmal messen!“ - Und doch war's eben da.

Wer also solche Strahlenschäden gemessen zu haben glaubt, sieht lediglich zum ersten Mal, daß es sie auch vorher schon gegeben hat. Das aber ist auch ohne umständliche Statistiken klar.

Statt dessen tun diese Bremer Forscher doch so, als sei es

-theoretisch - denkbar, daß Radioaktivität völlig unschädlich ist. Sie sagen: „Solange auch nur der Hauch eines Zweifels an der absoluten (!) Ungefährlichkeit der ... Atomkraft ... besteht, muß auf die Nutzung verzichtet werden.“ - Es ist nicht gut, wenn Wissenschaftler, die es eigentlich besser wissen müßten, vor lauter Freude über den gelungenen Beweis so tun, als sei da noch etwas zu beweisen gewesen.

Natürlich ist das erarbeitete Diagramm zur Säuglingssterblichkeit das Nachdenken wert. Immerhin fällt es schon mit bloßem Auge auf, daß die im Zusammenhang mit Tschernobyl von den Bremern beobachtete Anzahl toter Säuglinge nur ein Jahr zuvor von den Statistikern für „normal“ gehalten worden wäre. Das bedeutet, daß bei uns aus allen möglichen Gründen - noch immer viele Kinder sterben, aber daß es allmählich gelingt, diese Anzahl zu senken.

Die beobachteten Abweichungen auf dem Bild liegen offenbar statistisch an der Grenze der Nachweisbarkeit. Das heißt, daß künstliche Radioaktivität (auch unter ungünstigsten Ausnahmen) auf die Säuglingssterblichkeit gegenüber anderen Ursachen geringe Auswirkungen hat. - Aber wie groß dürfte der Anteil strahlengeschädigter Kinder denn auch höchstens sein? Es hat keinen Zweck, sich hinter statistischen Nachweisbarkeitsgrenzen zu verschanzen: Wer Atomenergie für zumutbar hält, wird sagen müssen, wie viele Opfer er maximal in Kauf zu nehmen bereit ist, seien sie nun beweisbar oder nicht.

Die Abbildung hat noch einen weiteren Aspekt: Warum nehmen wir gerade diese Erhöhung der Sterblichkeit kleiner Kinder so bestürzt zur Kenntnis? Sollten wir nicht viel nachdrücklicher fragen nach den vielen gestorbenen Säuglingen, die wir jedes Jahr als unauffällige Statistik zur Kenntnis nehmen? Immerhin ist zum Beispiel seit langem bekannt, daß Säuglingssterblichkeit besonders die Kinder von alleinstehenden, berufstätigen und ausländischen Frauen betrifft. (Soll das ein Plädoyer für christlich -demokratische Familienpolitik sein? - d.Korr.in, eine alleinstehende, berufstätige Mutter) Die Feststellung macht die Vermeidung strahlenbedingter Todesfälle nicht weniger wichtig, aber sie öffnet vielleicht den Blick für die Haupt- und Nebenseite des Problems „Säuglingssterblichkeit“.

Jedenfalls: Zum Verständnis der Wirkung künstlicher Radioaktivität trägt der Streit um die Bremer Daten nichts bei. Denn es besteht wissenschaftlich nicht etwa der „Hauch eines Zweifels“ an ihrer Ungefährlichkeit, sondern der Beweis ihrer prinzipiellen Gefährlichkeit ist längst erbracht.

Aus diesem Beweis folgt, daß viele herumstehende Atomkraftwerke und viele herumliegende Atomwaffen ein höheres Risiko dafür bilden, daß die derzeitige radioaktive Verseuchung der Erde weiter zunimmt und also die dort lebenden Organismen vermehrt geschädigt werden. Je eher es keine Atomkraftwerke und Atomwaffen auf der Erde mehr gibt, um so eher ist es möglich, daß im Laufe der Zeit (wenigstens durch den prinzipiell vermeidbaren Anteil der künstlichen Radioaktivität) keine Kinder mehr geschädigt werden oder sterben. Wir entscheiden gemeinsam, wie wichtig uns das ist. Wenn wir Schäden so gering als möglich halten wollen, dann gibt es nur eine denkbare Geschwindigkeit für den Ausstieg aus der Atomenergie und für das Verschrotten der Atomwaffen: Die schnellste Geschwindigkeit ist in jedem Fall die am wenigsten schädliche.

Wer plant, den überfälligen Ausstieg in schonenden Etappen und sauber begrenzt auf das Machbare zu vollziehen, hat dafür vielleicht sogar vertretbare Gründe. Aber er sollte sich dann bewußt sein, daß er eine Anzahl zusätzlicher strahlengeschädigter Menschen, Tiere und Pflanzen hinnimmt, die größer ist als Null. Ob sie jeweils „nachweisbar“ sind oder nicht, spielt für die Betroffenen jedenfalls keine Rolle.

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