: Grieneisen-Ritual mit Orgelgeräusch
■ Trauerfeier für Wolfgang Neuss: Ein geist- und trostloses Ritual / Gollwitzer spricht von „Hoffnung“ / Wolfgang Neuss kann sich nicht mehr wehren
„Sprengt mich auf einem Munitionsplatz in die Luft!“ Diese Anweisung findet sich in der letzten Lieferung der Sprüche, die Wolfgang Neuss jede Woche für den 'Stern‘ produzierte. Nach dem geist- und trostlosen Trauerritual, mit dem man gestern auf dem Waldfriedhof von ihm Abschied nahm, wäre ein öffentlicher Abgang nach obigem Rezept in jedem Fall das Bessere gewesen - und ganz im Sinne des Verstorbenen, der dem alten APO-Wörtchen „Umfunktionieren“ goldene Zukunft versprach: „Nichts wird zerstört, wir brauchen alles, die kleinste lockere Schraube ist nicht überflüssig.“ Und was kann man mit einem auf alle Zeiten überflüssigen Munitionsplatz (und den dort gelagerten Explosivstoffen) besseres anstellen, als untauglich gewordene Körper öffentlich in die Luft zu sprengen. „Von Kultur kann keine Rede sein, solange nicht an jeder Ecke öffentlich gestorben wird“, schrieb Wolfgang Neuss einmal in der taz - eine Kulturlosigkeit, die ihn jetzt selbst eingeholt hat, in einem plumpen Grieneisen-Ritual mit Orgelgeräusch, das weder von einem freundlichen Degenhardt-Song („Pantoffeln und Schuh als Rauschkraut geraucht“) noch von Dieter Hildebrandt („Er hat mir mal gesagt: Keine Rede, wenn ich mich nicht mehr wehren kann“) zu retten war. Und auch nicht von der kurzen Trauerrede Helmut Gollwitzers, obwohl er kein einziges Mal von Jesus sprach und immer wieder von „Hoffnung“ - schön und gut gemeint, aber nicht gut angesichts eines Verblichenen, der sich wie kaum ein anderer intensiv und praktisch mit dem Tod beschäftigt hat. Der seinen Körper viele Male verlassen hat, so lange, daß er schon ganz kalt war („Man kann heute sterben und anschließend in die Disko“) - Wolfgang Neuss wußte, wovon er sprach, wenn er zur gutgemeinten Hoffnung äußerte: „Was brauch‘ ich ein Prinzip Hoffnung, wenn ich Gewißheit habe.“ Daß er diese Gewißheit nicht bei Jesus und in der Bibel, sondern mit Meditation, LSD und Haschisch gefunden hat, und diese religiöse Methode dem heruntergekommenen Geist der Volksreligionen vorzog, das hätte (nicht nur der Ehrlichkeit halber) ins Trauerprotokoll gehört, ebenso wie sein Vorschlag, diese Gewißheit durch die Einrichtung von Ekstase -Schulen zu einer selbstverständlichen Erfahrung für jede/n zu machen.
Viele alte Kollegen und Freunde von einst, von denen nur die wenigsten in den letzten zehn Jahren viel mit ihm zu tun haben wollten, hatten sich auf dem Waldfriedhof versammelt daß die Trauerfeier keine Massenveranstaltung geworden ist, wie viele erwarteten, kann im Hinblick auf ihre geistige Ärmlichkeit nicht schaden. Und hätte nicht ein reichhaltiges Büffett auf dem UFA-Gelände dafür gesorgt, daß zumindest die körperlichen Bedürfnisse erfüllt wurden, die Leib/Seele -Balance der Beteiligten wäre endgültig zusammengebrochen. So aber wurden im Sinne des Verstorbenen zumindest die ersten Neuss-Witze erzählt: „Der Drogenbeauftragte will die Verbrennung wegen Jugendgefährdung verbieten - das Krematorium hat keinen Katalysator.“ Einer war sich ganz sicher: „Wolfgang ist wiedergeboren und stinksauer - er hat einen Nichtraucher erwischt.“
mbr.
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