Ein halber Schlußstrich

■ Otelo de Carvalho ist frei. Doch weitere Gefangene bleiben im Knast

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Seit Monaten schon wurde in Portugal die Haftentlassung von Otelo de Carvalho und seinen Genossen erwartet, seit Jahren war sie überfällig. Nun hat sich die Regierung getraut. Ein erfreulicher Schritt, der sicher ohne die wachsende öffentliche Unterstützung für diese Forderung nicht möglich gewesen wäre. Damit wird einer Tatsache Rechnung getragen, die auf politischer Ebene seit langem von niemandem mehr bestritten wird: dem Ende der Nelkenrevolution.

Die juristische Verfolgung von Otelo kann als Anzeiger für die politische Entwicklung Portugals in den letzten Jahren dienen. Als er 1984 verhaftet wird, hat die Rechte wieder das Ruder im Land übernommen. Die Großgrundbesitzer haben einen Großteil der ehemals besetzten Ländereien zurückerhalten, der OIWF regiert, und Portugal bereitet sich auf einen Eintritt in die EG vor. Die Verhaftung Otelos ist der Knüppel des Staates gegen das Symbol der Nelkenrevolution, auch wenn er offiziell den Mitgliedern der FP-25 gilt, die in diesen Jahren Anschläge und Überfälle verüben. Der Prozeß gegen ihn wird von ausländischen Beobachtern als Racheakt des wiedererstarkten bürgerlichen Staates gegen die Protagonisten des Aufstands angesehen. Solche Racheakte hat dieser Staat heute nicht mehr nötig: Niemand in Portugal hält heute eine Rückkehr zu revolutionären Zeiten für möglich, auch Otelo nicht.

Die Freilassung ist dennoch nur ein halber Schritt. Denn die juristische Prozedur wird fortgesetzt und, was noch wichtiger ist, 18 Gefangene, denen die gleichen Vergehen zur Last gelegt werden, bleiben weiterhin im Knast, weil sie bereits rechtskräftig verurteilt sind. Eine Amnestie, für die sich in den letzten Monaten immer größere Teile der portugiesischen Öffentlichkeit eingesetzt haben, hätte einen Schlußstrich unter diese jüngere Vergangenheit gesetzt und auch diesen Gefangenen die Freiheit gebracht. Nur unter der Bedingung einer Amnestie wäre es darüber hinaus möglich gewesen, die längst überfällige Diskussion unter der portugiesischen Linken über die Revolution und ihr Scheitern in Gang zu setzen. Noch immer ist die Situation dieser Linken von gegenseitigen Vorwürfen und Feindseligkeiten gekennzeichnet, die solange nicht geklärt werden können, solange juristische Verfahren zu erwarten sind. 14 Jahre nach dem Ende des revolutionären Experiments steckt die Linke immer noch gefangen in der Unmöglichkeit der Vergangenheitsbewältigung und damit der Entwicklung einer gemeinsamen zukünftigen politischen Perspektive. Die Freilassung Otelos, so positiv sie auch ist, bedeutet das Aus für eine Amnestie. Die Regierung hat sich von einem wachsenden politischen Druck befreit. Doch sie hat die billigste Lösung dafür gewählt.

Antje Bauer