Sonderausweise für Gaza-Bewohner

Jugendlicher wurde erschossen, als er das Ausgehverbot mißachtete / Militärbehörden wollen Sonderausweise für Palästinenser ausgeben / Israelische Wirtschaft spürt Ausbleiben palästinensischer Arbeiter  ■  Aus Tel Aviv Amos Wollin

Bereits seit Donnerstag abend gilt wieder die am Wochenanfang verhängte totale Ausgangssperre im israelisch besetzten Gazastreifen. Aus israelischen Militärkreisen wurde bedeutet, die Maßnahme könne über das Wochenende ausgedehnt werden.

Im Flüchtlingslager Nusseirat nahe der Stadt Gaza wurde ein 20jähriger erschossen, als er das Ausgehverbot mißachtete. Im Gazastreifen wurden bei Unruhen 22 Menschen verletzt, hieß es aus Palästinenserkreisen. Augenzeugen israelischer und palästinensischer Seite bezeichneten die Atmosphäre in dem Gebiet, wo mehr als 650.000 Menschen von der Ausgangssperre betroffen sind, als überaus explosiv. Sowohl israelische Soldaten als auch palästinensische Jugendliche zeigten wenig Neigung, den Anweisungen ihrer jeweiligen Vorgesetzten zu folgen. Die 60.000 in Israel arbeitenden Palästinenser aus dem Gazastreifen waren schon zu Beginn der Ausgangssperre von den Militärbehörden aufgefordert worden, umgehend nach Hause zurückzukehren. Ziel dieser Maßnahme ist, nach Aussagen von Verteidigungsminister Rabin, den Palästinensern begreiflich zu machen, „daß die Freiheit, sich nach Israel zu begeben und dort zu arbeiten, einzig vom guten Willen Israels“ abhänge. Rabin ließ keinen Zweifel daran, daß mit dieser Maßnahme Druck auf die Palästinenser ausgeübt werden solle, den sogenannten „Friedensplan“ von Ministerpräsident Schamir anzunehmen.

Als eine der Ausgangssperre folgende Maßnahme haben die Militärbehörden die Ausgabe von Sonderausweisen für Palästinenser angekündigt, die künftig nach Israel einreisen wollen. „Unliebsamen“ Leuten, die aktiv an der Intifada beteiligt seien, könne der Ausweis verwehrt werden, wurde ausdrücklich betont. Die Einführung der Sonderausweise sei ein Teil der gleichen Friedenspolitik, wie der „Friedensplan“, erklärte wiederum Verteidigungsminister Rabin.

Auch in Israel selbst hinterläßt die Palästinenserpolitik der Regierung ihre Spuren. Zahlreiche Betriebe stehen kurz vor dem Stillstand. In den Bereichen der Bau-, Textil- und Nahrungsmittelindustrie führte das Ausbleiben der arabischen Arbeiter aus dem Gazastreifen zu Engpässen. In einem Telegram richtete der israelische Bau- und Unternehmerverband einen SOS-Ruf an Schamir. Ihre Unternehmen stünden kurz vor dem Zusammenbruch; sie hätten bereits mehrere Millionen US-Dollar durch den Arbeitsausfall verloren. In der Bauindustrie des südlichen Israels stellen die Arbeiter aus dem Gazastreifen ca. 70 Prozent aller Arbeitskräfte. Dutzende von Baustellen in der Region von Tel Aviv sowie einige Textilunternehmen im Süden Israels mußten die Arbeit einstellen.

Unter israelischen Wirtschaftsleuten dreht sich der Streit bereits um den schnellstmöglichen Weg, alternative Arbeitskräfte heranzuschaffen. Während einerseits für Arbeiter aus Portugal oder Jugoslawien plädiert wird, bevorzugt die andere Seite der Unternehmerschaft die Anstellung von Mittelschülern, deren Sommerferien bald beginnen. Wieder andere Unternehmer haben sich für mehr Arbeiter aus dem seit 1978 von Israel besetzten „Sicherheitsstreifen“ in Südlibanon ausgesprochen.

Das israelische Arbeitsministerium hofft, jetzt die neunprozentige Arbeitslosenquote der israelischen Bevölkerung senken zu können. Das aber wissen die Arbeitgeber aus praktischer Erfahrung besser. Es gibt viel schwere und schmutzige Arbeit, die nur noch Araber zu verrichten bereit sind. So stinkt zum Beispiel die Großstadt Tel Aviv bereits an diesem sommerheißen Wochenende von all dem liegengebliebenen Dreck. In Krankenhäusern bemerkt man das Fehlen der arabischen Krankenpfleger und Putzkolonnen. Das Problem könnte sich sehr rasch weiter zuspitzen, vor allem wenn man sich vor Augen hält, daß bislang „nur“ die Arbeiter aus dem Gazastreifen fehlen. Eine Ausdehnung der repressiven Maßnahmen auf das besetzte Westufer des Jordans wird nicht ausgeschlossen. Für die Palästinenser in den besetzten Gebieten hat die Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten weitgehende Folgen: allein die Einführung des „Sonderausweises“, die eine zusätzliche Strafbehandlung der Intifada-Aktivisten bedeutet, bringt viele Familien an den Rand des Ruins. Das Geld wird so knapp, daß viele Familien nur noch auf Kosten anderer überleben können.

Schmuel Goren, der „Koordinator der israelischen Regierungstätigkeit in den besetzten Gebieten“, beschreibt die neuen Maßnahmen als „Antwort auf die Welle der arabischen Gewalttätigkeiten innerhalb der 'Grünen‘ Linie“, also innerhalb der israelischen Grenzen nach dem 67er Krieg, bzw. den Gazastreifen und die Westbank ausgenommen. Dem Rechtsausschuß der Knesset erklärte er, nun sei die Epoche der fast uneingeschränkten Anwesenheit der Araber aus Gaza in Israel vorbei. Die Einführung einer ähnlichen Politik für die Westbank wird vermutlich noch einige Zeit, zwischen zwei und drei Monaten, dauern. Die Bevölkerung muß nach den entsprechenden Kategorien klassifiziert werden, bevor die „Sonderausweise“ in roter oder grüner Farbe ausgeteilt werden, die die Palästinenser fortan stets und ständig bei sich tragen müssen. Dann obliegt den israelischen Arbeitgebern die Pflicht, nur noch die „richtigen“ Palästinensern mit den „richtigen“ Ausweisen einzustellen.