: Der letzte Prätendent
■ Und der letzte Tag in Cannes
Michel Blanc - in Deutschland noch kaum bekannt - ist sicher einer der faszinierendsten französischen Schauspieler. Äußerlich eine völlig unspektakuläre Erscheinung, aber er hat eines dieser seltenen, wirklich filmischen Gesichter, von denen sich die leisesten inneren Regungen ablesen lassen, ohne daß man sie als äußeres Mienenspiel fassen kann. Blanc spielt den Monsieur Hire in Patrice Lecontes gleichnamigem Film nach einem Roman von Simenon.
Hire ist Schneider und lebt sehr zurückgezogen in einer Pariser Zwanzigerjahre-Mietskaserne. Den Nachbarn ist er unheimlich. Als im Viertel ein junges Mädchen ermordet wird, steht er sofort unter Verdacht. Er kümmert sich nicht darum. Er ist ein Spanner, kein Täter. Seit einiger Zeit beobachtet er eine Frau in der Wohnung gegenüber. Sie bemerkt es, läßt sich darauf ein. Er verliebt sich. Das Ende ist grausam.
Der Film ist in Cinemascope-Format gedreht, das in solchen intimen Dekors seine größte Wirkung entfaltet. Alle warmen Töne sind herausgefiltert. Vielleicht ist Monsieur Hire ein bißchen von Kieslowski beeinflußt - er versucht, beiläufig und kurz zu sein, ist dabei aber zu sehr ums schöne Bild bemüht. Zum ergreifenden Schauspiel machen ihn Michel Blanc und seine Partnerin Sandrine Bonnaire.
Monsieur Hire ist also der letzte Prätendent auf die Goldene Palme, die heute abend verliehen wird. Aber er ist nicht der einzige. Cannes hatte in diesem Jahr den besten Wettbewerb, den ich je gesehen habe. Als mögliche Preisträger werden gehandelt: Emir Kusturicas Zeit der Zigeuner, die bunte, manchmal surreale Geschichte eines jugoslawischen - wie sagt man - Sinti und/oder Roma (Kusturica hat schon einmal die Goldene Palme bekommen für Papa ist auf Dienstreise vor drei Jahren); Shohei Imamuras Schwarzer Regen, der in den 50er Jahren spielt und von den Spätfolgen der Atombombe handelt (Imamura hat 1983 die Goldene Palme für die Ballade von Narayama bekommen); Jim Jarmuschs Mystery Train, Steven Soderberghs Sex, Lies And Videotapes, aber auch Filme, die ich weniger mochte wie Denys Arcands Jesus de Montreal, der noch christlicher ist als Scorseses Christus -Film, Ettore Scolas Splendor, Bertrand Bliers Trop belle pour toi. Kurz: fast der halbe Wettbewerb steht zur Debatte.
Die Jury - Wim Wenders, Sally Field, Krzysztof Kieslowski, Peter Handke, Hector Babenco und die anderen - könnte es sich leicht machen und auf eine Vergabe der Goldenen Palme verzichten oder sie teilen. Das wären faule Kompromisse. Da eine ästhetische Entscheidung nicht möglich ist, sollte man eine politische fällen. Wenn ich die Jury wäre, ginge die Goldene Palme an Do The Right Thing von Lee, aber ich hätte ein schlechtes Gewissen gegenüber Jane Campions Sweetie.
Thierry Chervel
Ausführlicher Bericht zur Preisverleihung am Donnerstag
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen