: Politik statt Formeln gegen die Mauer
■ Parlamentsvizepräsidentin Schramm (AL) will das Bekenntnis zur Wiedervereinigung nicht aussprechen / Diepgen sieht die Freiheit wanken
Eklat im Abgeordnetenhaus, minutenlange Tumulte in den Reihen der CDU- und REP-Fraktion. Eberhard Diepgen rief den Ältestenrat zusammen. Was war geschehen? Die Parlamentsvizepräsidentin Hilde Schramm (AL) hatte sich geweigert, die Eröffnungsformel zu sprechen. Sie wollte nicht, wie seit Jahrzehnten üblich, „den unbeugsamen Willen, daß die Mauer fallen und Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muß“ bekunden.
Hilde Schramm begründete ihren Schritt damit, daß der Konsens zu diesen Worten „offenkundig für jeden sichtbar nicht mehr gegeben“ sei. SPD und AL, so sagte Frau Schramm, distanzierten sich bei jeder Sitzung von diesen Mahnworten: „Sie bleiben sitzen.“ Tatsächlich sind es nur noch die Abgeordneten der CDU und die „Republikaner“, die die Worte im Stehen hören. Sie könne es nicht mit ihrem politischen Gewissen vereinbaren, sagte Hilde Schramm weiter, im Jahr 1989, in welchem große Hoffnungen auf weitergehende Entspannungspolitik gesetzt würden, die Sitzungen des Abgeordnetenhauses mit einer Formel aus dem kalten Krieg zu eröffnen.
„Selbstverständlich wünsche ich, daß die Mauer abgebaut wird, aber die Mahnworte zur Wiedervereinigung widersprechen der täglichen Politik, die auf der Akzeptanz der Zweistaatlichkeit basiert“, sagte Hilde Schramm in ihrer Erklärung. Frau Schramm hatte zunächst den Parlamentspräsidenten Wohlrabe in einem Brief gebeten, die Eröffnungshandlung nicht vornehmen zu müssen.
Eberhard Diepgen, Oppositionsführer, nannte in der nachfolgenden Debatte das Verhalten der Parlamentspräsidentin eine „Brüskierung“ des Abgeordnetenhauses und der „Berliner in beiden Teilen der Stadt“. Wer sich vom Prinzip der Freiheit absetze, handle gegen die Interessen der Berliner in der Mitte Europas. Der „Republikaner“ Andres forderte Hilde Schramm auf, von ihrem Amt zurückzutreten. „Ernst Reuter“, so Andres, „würde sich im Grabe umdrehen.“
Die SPD will sich jetzt zusammen mit der Alternativen Liste für eine Veränderung der Formel einsetzen. Der sozialdemokratische Abgeordnete Löffler fand zwar, daß das durch das Verhalten der Parlamentspräsidentin Schramm nicht „erleichtert“ worden sei. Doch in der Sache ist er mit ihr einig. Er könnte sich heute ein Bekenntnis vorstellen, das „angemessener“ sei. Begriffe wie „Selbstbestimmung“ und „Freiheit“ seien darin zentral. Und daß die Mauer vor der Geschichte keinen Bestand haben werde, das habe schließlich auch Gorbatschow gesagt. „Wiedervereinigung“ aber, könne nicht das Ziel sein. Er sei für eine „Einigung im europäischen Rahmen“, sagte Löffler.
Uneingeschränkt einig mit dem Verhalten von Hilde Schramm ist auch die AL-Fraktion nicht. „Es hätte vielleicht andere Wege gegeben“, sagte Albert Statz. Doch sei die Formel eine „hohle Konvention“ gewesen, sie zu brechen „gut so“. „Wir“, so Statz, „wollen keinen Hauptstadtanspruch, wir wollen Menschenrechte, und die sind unteilbar.“
Die besagte Formel stammt aus dem Jahr 1955. Parlamentspräsident Willi Brandt war es, der sie auf Empfehlung des „Kuratoriums unteilbares Deutschland“ zum ersten Mal sprach, damals noch ohne den Passus über die Mauer. Der wurde am 15.2.1962, nach dem Mauerbau, eingefügt.
bf
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