Wegbereiterin der Reform

Die Soziologin Tatjana Saslawskaja stellt den „menschlichen Faktor“ ins Zentrum  ■ PORTRAIT

Tatjana Iwanowna Saslawskaja wurde 1927 in Kiew geboren, studierte in Moskau Wirtschaftswissenschaften und habilitierte sich 1965. Bis 1963 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Wirtschaft der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Danach wechselte sie an die Sibirische Abteilung der Akademie, deren ordentliches Mitglied sie seit 1982 ist. 1975 wurde sie zudem Leiterin des Lehrstuhls für Politische Ökonomie an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät von Nowosibirsk und ist langjährige Mitarbeiterin zahlreicher wirtschafts- und gesellschafts-wissenschaftlicher Zeitungen. Ihr ursprüngliches Fachgebiet war die Agrarsoziologie, doch beschäftigte sie sich zunehmend mit grundsätzlichen Fragen der sozial-ökonomischen Entwicklung, insbesondere der Steuerung des ökonomischen Verhaltens der Bevölkerung. In diesem Zusammenhang steht die „Nowosibirsker Studie“, die 1984 im Westen Verbreitung fand und allgemein ihr zugeschrieben wird. Sie soll 1983 einem „geschlossenen Seminar“ von Wirtschaftsspezialisten der Akademie der Wissenschaften, des ZK und des Staatlichen Plankomitees (Gosplan) vorgestellt worden sein, wurde aber bislang in der Sowjetunion nicht öffentlich gemacht.

In dieser Studie macht sie die administrativen Leitungsmethoden der Planwirtschaft und des Verteilungssystems verantwortlich für geringe Effizienz der Arbeit und für neue (systemimmanente) Ungerechtigkeiten. Sie legt im einzelnen dar, daß unter den bestehenden Verhältnissen notgedrungen eine Schattenwirtschaft entstehen müsse und daß die Interessen der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen in der Sowjetunion durchaus nicht harmonisieren. Damals war solch eine Diagnose noch ungeheuerlich. Deutlich wird dabei, daß die Vorarbeiten des heutigen Reformkurses schon vor Gorbatschows Machtantritt eingeleitet wurden und in welchem Maße gerade Saslawskaja (seit 1954 Parteimitglied) daran beteiligt war.

Das Wirken des „menschlichen Faktors“ in der Wirtschaft ist ihr Thema - aber nicht abstrakte Wirtschaftsmechanismen, sondern der Mensch und seine Motivationen, der einer größeren Wahlfreiheit bedarf, als es in der Sowjetunion bislang noch üblich ist. Ingrid Oswal