: „Es gibt viel zu lernen und neu zu begreifen
■ Erklärung von Eva Haule, inhaftiert in Stuttgart-Stammheim, zum Abbruch des Hungerstreiks der RAF-Gefangenen
IM
Wir machen so nicht mehr weiter - haben wir am Anfang vom Hungerstreik gesagt, und daran ändert sich nichts, auch wenn wir nicht das ganze Ziel erreicht haben. Sie werden uns nicht mehr in der Isolation vergraben. Das ist vorbei, und das drehen sie auch nicht wieder zurück. Wir haben die Konfrontation ausgekämpft bis zu dem Zeitpunkt, wo definitiv klar war: es wird keine neue Entscheidungssituation geben, weder durch unsere Lösungsvorschläge noch dadurch, daß welche von uns sterben. Es wäre sinnlos gewesen, weiterzumachen. Ein Widerspruch zu allem, worum wir hier kämpfen: unser Leben. Mit der Entscheidung zum Abbruch haben wir den Sinn für uns festgehalten. So muß es auch sein, und so war es die ganze Zeit im Hungerstreik. Dagegen haben sie „nur“ die Macht. Leer, brutal, die harte Staatsmacht.
Was jetzt im Hungerstreik entstanden ist, nimmt uns keiner mehr. Wir wollen die Diskussion mit allen Menschen/ Gruppen, die aus ihren unterschiedlichen, besonderen Erfahrungen und politischen Prozessen solidarisch bzw. kritisch-solidarisch mit uns sind und die genauso entschlossen sind, nicht mehr zuzulassen, daß wir in der Isolation zerstört, von allen politischen Diskussionen und Entwicklungen abgeschnitten werden. Es ist klar, daß wir die Bedingungen dafür konkret noch schaffen müssen. Zusammen!
Wir machen das nicht mehr weiter wie bisher: aus der totalen Vereinzelung und ohne Möglichkeit zur Kommunikation unter uns. Das ist eins. Das andere ist: Die Notwendigkeit der politisch-inhaltlichen Diskussion mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und innerhalb des ganzen Spektrums des Widerstands ist im Verlauf des Hungerstreiks total deutlich geworden. Die Arbeit und Auseinandersetzung für die Grundlagen und konkreten politischen Inhalte einer wirklich verändernden Politik - das alles liegt als Herausforderung auf dem Tisch. Da muß es weitergehen.
Das Bild könnte nicht schärfer, die Situation nicht offener sein. 40 Jahre BRD. Die Rechte mobilisiert, setzt sich fest und macht, was sie will (auch die neuen alten Ratten kommen aus ihren Löchern: Produkt Bonner Politik). Und was sie will, ist der brachiale Durchmarsch, erzwungen mit ihrer ökonomischen und staatlichen Herrschaftspotenz, die zu demonstrieren auch der Inhalt ihrer ganzen Politik ist gegen die sozialen und politischen Interessen der Menschen. Das ist die Realität, und es ist das, was sie für ihr „Europa“ anvisieren und festpressen wollen. 40 Jahre BRD auf der internationalen Bühne fordern BRD-Politiker „die Einhaltung der Menschenrechte“ - hier ist „der Staat läßt sich nicht erpressen“ nackt alles, was ihnen einfällt gegenüber hungerstreikenden Gefangenen, die ihr Leben fürs Leben einsetzen, und gegenüber einer gesellschaftlichen Solidaritätsbewegung, die sagt: Schluß mit der Isolation, und die Gefangenen sollen Teil der gesamten politischen Diskussion sein. Und es hat sich gezeigt, daß es gegenüber dieser reaktionären harten Macht keine politisch wirksame Kraft hier gibt. Das betrifft alle Zusammenhänge im Widerstand im weitesten Sinn, genauso wie gewerkschaftliche, christliche und antifaschistische Gruppen.
Und es betrifft nicht nur unseren Kampf und die harte Haltung des Staates uns gegenüber. Das ist nur ein besonders zugespitzter Punkt in der Auseinandersetzung, wo Menscheninteressen frontal zusammenstoßen mit denen von Staat und Kapital. Sie erfaßt jetzt alle gesellschaftlichen Bereiche, jeder, der für menschenwürdige Lebensbedingungen im umfasssenden Sinn, aber jeweils konkret - im Widerstand ist, ist damit konfrontiert. Das ist es, was jetzt jeder sehen, spüren, begreifen kann, und niemand kann denken, daß es politisch so weitergeht wie bisher. Es wäre nur hilflos genau das will die Macht.
Es gibt nichts anderes, als jetzt die Diskussion zu beginnen, dafür die Menschen und Gruppen zusammenzubringen, die eine grundsätzlich andere gesellschaftliche Realität wollen; sie mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen respektieren und ernst nehmen; den ganzen Unsinn, der diese Diskussion blockiert, einfach mal liegenzulassen und über Inhalte zu sprechen - für die Entwicklung einer politischen Kraft, die in der Lage ist, sich, die menschlichen Ziele gegen diesen technokratisch -faschistischen Apparat durchzusetzen, den die kapitalistische Macht hier und in Westeuropa aufrichten will.
Es gibt nichts anderes, denn die Fragen stellen sich zwingend überall: Wie können die Interessen der Menschen gegen diese Macht durchgesetzt werden? Wie ist das tatsächlich möglich zu erreichen, was als brennende Notwendigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen hier wie international spürbar ist? Wie sehen die Wege und Perspektiven aus?
Zu Lösungen für diese Fragen zu kommen, kann nur das Ziel der Diskussion sein. Sie muß, und ich glaube, sie kann jetzt von allen solidarisch zusammen geführt werden, die sich darin einig sind. Jeder wird gebraucht mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen, Vorstellungen. Das ist und verlangt eine andere Haltung und Herangehensweise in den Auseinandersetzungen als bisher. Nicht Abgrenzungen, hohle Parolen, ideologische Modelle ... stehen im Zentrum, sondern die Menschen. Ihre Gedanken, ihre politische Aktion - allein daraus können Lösungen kommen.
Wie wir das sehen und wollen habe ich im Brief vom März, der gekürzt in der taz kam, angefangen zu sagen. Und wenn ich nur anschaue, was von ganz verschiedenen Leuten und Gruppen zum Hungerstreik gesagt und gemacht wurde, dann sehe ich starke Möglichkeiten. Aber sie müssen bewußt angepackt, produktiv für den weiteren politischen Prozeß gemacht werden. Von allen. Das ist noch nicht so. Wir lassen das nicht mehr los, was sich jetzt entwickelt hat, und ich hoffe , daß die, die mit uns sind, das auch so machen.
Es gibt viel zu lernen und neu zu begreifen aus diesem Kampf jetzt. Wir müssen alle über die politische Entwicklung nachdenken und darüber, wie wir aus der veränderten Situation weiter die Bedingungen schaffen für uns und die Diskussion. Darauf konzentrieren wir uns, und dann muß es konkret weitergehen - sofort! Einzelne, oder wo das geht, mehrere von uns zusammen, werden dann mehr sagen als ich hier aus den ersten Gedanken. Das bleibt jetzt auch so, wird nicht mehr aufhören: Daß wir in der politischen Auseinandersetzung da sind.
Eva Haule, 20.05.1989
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