: „Der Beginn von Politik“
Interview mit Peter Schlotter, Friedensforscher an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung zum Nato-Gipfel ■ I N T E R V I E W
taz: Waren Sie über die Bush-Vorschläge überrascht? Ist das wirklich eine revolutionäre Offerte?
Schlotter: Die Vorschläge revolutionär zu nennen, ist sicherlich übertrieben. Aber ich war schon etwas überrascht. Mein Eindruck ist: Bush ging in die politische Offensive, um Handlungsfähigkeit zu zeigen. Denn er stand in den USA unter starkem innenpolitischem Druck: Nicht nur die Demokraten, sondern auch seine republikanischen Parteifreunde warfen ihm vor, ein Langweiler zu sein und politisch nicht initiativ zu werden. Insofern ist bei dem Bush-Vorschlag auch etwas Konferenzdonner dabei. Aber die Initiative ist zumindest einmal der Beginn von Politik. Man muß sehen, ob das eine Eintagsfliege bleibt.
Der zentrale Punkt des Bush-Vorschlags ist der Zeitraum: Ist ein Abkommen in einem Jahr realistisch?
Wenn die USA und die UdSSR daran interessiert sind, daß es relativ schnell zu einem Abkommen kommt, ist das zumindest nicht unrealistisch. Ich will mich nicht auf ein Jahr festlegen. Aber realistisch könnte der Zeitraum vielleicht insofern sein, als man in Wien in einigen Bereichen schon nach zwei Monaten Übereinstimmung gefunden hat. Man hat sich schon perspektivisch auf gewisse Höchstgrenzen bei Panzern und Infanteriekampfzeugen geeinigt. Außerdem ist die UdSSR mit ihren Vorschlägen der Nato ziemlich entgegengekommen. Bush ist mit seinem Vorschlag wiederum dem Warschauer Vertrag entgegengekommen. Der Warschauer Vertrag hat bisher nämlich immer argumentiert, sie könnten sich nur dann auf die Reduzierung von Panzern einlassen, wenn auch eine Beschränkung von Kampfflugzeugen und Hubschraubern vereinbart wird. Dem hat Bush zugestimmt.
Nun will Bush ja nur die Kampfflugzeuge einbeziehen, die „von Land“ gestartet werden. Kann damit der gesamte Verhandlungsprozeß verzögert werden?
Natürlich kann das ein Haken sein, wenn man damit alles verzögern will. Das muß aber nicht so sein. Alle Konferenz -Beobachter gingen ja davon aus, daß die Nato bei den Kampfflugzeugen irgendwann nachgeben mußte. Jetzt will Bush noch die F-111 - das sind US-Kampfbomber, die in Großbritannien stationiert sind - sowie die französischen Flugzeuge ausklammern. Man wird sehen, ob die UdSSR sich darauf einläßt.
Bei den früheren Gesprächen über Truppenabbau wurde über 15 Jahre verhandelt, und es kam gar nichts heraus.
Dieser jahrelange „Datenstreit“ bei den MBFR-Verhandlungen war ja nur ein Ausdruck davon, daß ein solches Abkommen niemand wollte. Wir haben es heute aber mit einer reformorientierten UdSSR-Führung zu tun, und auch die Nato ist heute nicht mehr so geschlossen. Die Nato-internen Widersprüche sind größer, und die BRD spielt heute eine andere Rolle als damals. Hinzu kommt: Der Zugang, sich auf gemeinsame Obergrenzen zu einigen, ist verhandlungstechnisch günstiger, als sich über eine Bestandsaufnahme des Status quo zu verständigen. Das läßt jeder Seite mehr Spielraum, das Gesicht zu wahren.
Dennoch hat die Bundesregierung die US-Position akzeptiert: Erst wenn in Wien ein Abkommen vorliegt, wird über Kurzstreckenwaffen verhandelt. Wer garantiert, daß sich die optimistische Prognose erfüllt?
Das ist ein Kompromiß, der allen Nato-Staaten die Gelegenheit zu Obstruktionspolitik bietet, die kein Abkommen wollen. Die Kandidaten sind Großbritannien und Frankreich. Aber das hätte mit jedem anderen Kompromiß auch passieren können. Es kann auch sein, daß in den USA über den Bush -Vorschlag erst mal heftig diskutiert wird. Militärbürokratien sind ja sehr geübt, solche Vorschläge durch militärtechnische Details wieder zunichte zu machen. Immerhin haben die USA jetzt die Reduzierung ihrer Truppen angeboten. Dazu müssen sie erst mal stehen. Es besteht auch das Interesse, das amerikanische Budget etwas zu entlasten. Nun schließt der Raketenkompromiß ja eine dritte Null-Lösung aus. Wurde damit letztlich nicht die gültige Abschreckungsstrategie der Nato bekräftigt?
Sicher. Das in Brüssel verabschiedete Gesamtkonzept schreibt den Formelkompromiß der Nato-Strategie wieder einmal fest. Und der lautet: Es muß eine „Triade“ von Reaktionen geben, und man muß dafür einen Mix aus atomaren und konventionellen Waffen bereithalten. Aber es bleibt eben ein Formelkompromiß. Immer dann, wenn die Entscheidung über neue Waffen anstand, brach ja der Streit los. Aber faktisch läßt sich niemals ein Kompromiß zwischen den Staaten erzielen, die über den Einsatz von Atomwaffen verfügen, und denjenigen, auf deren Köpfen sie niedergehen.
Trotzdem: In Brüssel wurde mit dem Nein zur dritten Null -Lösung beschlossen, daß neue Lance-Rakten hier Mitte der 90er Jahre stationiert werden.
Nein, das sehe ich anders. Der Kommunique-Text ist schwammig. Man hat sich vorerst gegen eine dritte Null -Lösung entschieden, und der US-Kongreß kann Gelder für Forschung und Entwicklung der Lance-Raketen bewilligen. Aber es muß nicht zu einer Stationierung kommen. Wenn das allgemeine Ost-West-Klima Mitte der 90er Jahre weiterhin entspannt ist, kann eine Dynamik in Richtung Null bei landgestützten Kurzstreckenwaffen entstehen. Auch das ist letztlich eine Frage des innenpolitischen Drucks, gerade hier, in der BRD. Auch frühere Nato-Beschlüsse waren nicht für die Ewigkeit gedacht.
Interview: Ursel Sieber
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