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Was andere denken-betr.: "Oh Gott, diese Spießer", taz vom 9.5.89

betr.: „Oh Gott, diese Spießer“, taz vom 9.5.89

Als Vierwochenbundesbürger, auf der Suche nach Lesbarem, diesmal bundesdeutschem Zeitungspapier, zwischen taz und 'FAZ'lernend... stieß ich vor einiger Zeit erschrocken auf einen Kommentar Ihrer Zeitung, in dem der Schreiber jenes Textes behauptet, das Wahlverhalten ehemaliger DDR -BürgerInnen zu kennen.

Am späten Schluß dieser Anmaßung beweist zwar der Schreiber, wenn er die DKP als nichtkonform bezeichnet, seine Ahnungslosigkeit, doch kann dies nicht eine mir sehr bekannte Sprache entschuldigen, in der ein ironisierender Lehrmeister entscheidet, was andere denken. Da spreche ich schon lieber von mir und habe wirklich etwas zu sagen, oder ich schaffe es zu verzichten.

Verallgemeinerungsrealismus, so glaube ich, dient weder dem Irrtum an sich, dem angeblich vorhandenen Massenmenschen, von dem und mit der der Kommentator wohl zu sprechen meint, wenn er den Leser oder die Leserin vergißt..., noch der Qualität einer unabhängigen Zeitung.

Wenn ich in der DDR für mich entschieden habe, nicht zu wählen, weil ich unter anderem keine Wahlmöglichkeit vorfand, glaubte ich zu handeln. Und als ich nach Jahren, nachdem viele Freunde von mir Europa bereits von innen berührt hatten, für mich entschied, einen Antrag auf Übersiedlung in den anderen Teil Deutschlands zu stellen, handelte es sich dabei um eine mir schwer fallende Entscheidung, die nicht nur mit meiner dreckigschönen Heimatstadt Leipzig zu tun hatte, sondern auch mit einer Verantwortung gegenüber dem Leben, gegenüber einem Kind zum Beispiel. Ich möchte jetzt nicht über ein schlimmes, veraltetes Schulsystem sprechen, das mir noch sehr nah ist, nachdem ich es vor zehn Jahren verlassen habe, und das sich seitdem zum traurigen Schaden des/der einzelnen und einer Gesellschaft weiter zurückentwickelte; nur möchte ich andeuten, daß es bedeutende Gründe für einen Menschen in der DDR gibt, sich für sein/ihr Leben zu entscheiden. Diese Entscheidung kann freilich nicht Wahl zwischen konform und nichtkonform heißen. Zu tief liegen die Gründe, die die eigene Erfahrung gestalten, die letztendlich das eigene Handeln erzwingen.

So wie ich in der DDR handeln mußte, um dort leben zu können, so werde ich in der Bundesrepublik handeln müssen, um hier gerne weiter zu leben. Von der Sehnsucht nach Möglichkeiten, von der der Schreiber der Anmaßung scheinbar nichts weiß, lasse ich mich jetzt jedenfalls nicht weiter ablenken.

Torsten Ziesche

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