Die Entdeckung der Langsamkeit

■ „Das Antarctica-Projekt“ - ein Dokumentarfilm von Axel Engstfeld

In zwei Jahren wird der seit 1961 gültige Antarktis-Vertrag auslaufen. Die heute 22 Konsultationsstaaten sind derzeit dabei, die Ressourcen aufzuteilen und irrwitzig anmutende Pläne zu schmieden. Die Rede ist von U-Boot-Öltankern, die unter dem Eis ihre Fracht laden sollen. Die widrigen Verhältnisse machen die Gefahren der Umweltverseuchung noch unberechenbarer, als sie in Alaska schon waren. Weil die Naturprozesse in Antarktika langsamer als irgendwo sonst auf der Erde verlaufen, sind die Folgen von Eingriffen kaum absehbar. Eine Bananenschale braucht 100 Jahre, bis sie vermodert ist; das Wort Katastrophe bekommt hier eine neue Dimension. Das wird in Kauf genommen, denn es gibt Aussichten, eines Tages viel zu verdienen. Gold, Uran und Öl sollen unter dem Eis verborgen liegen. Ein geschäftiger US -amerikanischer Ölmanager, der die Regierung in Energiefragen berät, sagt: Man wird versuchen, Schäden zu beheben, aber wenn es nicht geht, dann geht es nicht. Man muß realistisch sein, sagt er. Es gibt Sätze, die man nicht besser erfinden könnte.

Herren in dunklen Anzügen parlieren mit ernsten Blicken und führen aus, daß die Ausbeutung der Rohstoffe zum Wohle der Menschheit unumgänglich sei. Der Leiter der US-Delegation sagt: „Die Zukunft des Kontinents liegt bei uns in guten Händen.“ Dann folgt ein Schnitt, ein Schiffsbug zerteilt wogendes Meer. Die Reise beginnt, und wir wissen, warum Greenpeace unterwegs ist. Dies sind parteiliche Montagen, unterlegt mit der getragenen Musik Marcel Wenglers (die manchmal wie Debussy klingt), dazu die gedämpfte, ruhige Kommentarstimme von Christian Brückner, in der, ganz weit hinten, etwas Beunruhigendes mitzittert (Brückner, nebenbei bemerkt, ist einer der begabtesten und begehrtesten Sprecher, der auch Robert de Niro synchronisiert und dessen Tonfall diesem Film seinen Stempel aufdrückt).

Antarctica-Projekt ist Abenteuerfilm und Antiabenteuerfilm, der die Aura des Außergewöhnlichen und Gefährlichen durch die Bilder vom Alltag an Bord zertrümmert. Man sieht das Warten der Männer auf dem Schiff, das nervöse Trommeln der Finger auf den Instrumenten, die Ungeduld der Besatzung und ahnt die Langeweile und die unheilvolle Klaustrophobie der Situation. 1986 mußte das Schiff, ausgesandt, um eine Greenpeace-Station in der Antarktis zu errichten, kehrt machen, um nicht im Packeis stecken zu bleiben. Ein Jahr später hatte Greenpeace mehr Glück.

Die lose Chronologie der '86er-Fahrt wird unterbrochen durch Einsprengsel, die die Hintergründe der geplanten Ausbeutung beleuchten und die Mythen der Geschichte der Eroberungen auffächern. Früher dachte man, daß dort im Süden das Paradies sei, doch die Entdecker stießen auf unberührbare, unmenschliche Natur. „Hinter uns Mount Terror... über die ganze graue, grenzenlose Barriere schien sich der Zauber einer kalten Unermeßlichkeit zu werfen, verschwommen, Heimat von Wind, Strömung und Dunkelheit. Mein Gott! Was für ein Ort“, schrieb 1911 Aspley Cherry-Garrad, der zu jenem Teil des Scott-Teams gehörte, das die Expedition überlebte. In wackeligen, schwarzweißen Dokumentarbildern sieht man Scott, den Briten, der auf Technik und Motoren vertraute und scheiterte, weil die Zylinder in der Kälte barsten. Man sieht Amundsen, der bei den Eskimos in die Lehre gegangen war und mit Hundeschlitten dem Ziel entgegenstrebte. Scotts Truppe starb auf dem Rückweg, 18 Kilometer vom rettenden Depot entfernt. Es war der Preis für die Zerstörung des Mythos vom Südpol.

Die Entdecker wurden schneller. Amundsen ging noch zu Fuß, 1928 überfliegen US-Amerikaner den Pol. „Der Blick von oben macht hochmütig“, sagt der Kommentar. Die Zeiten, als das Verständnis und die Beherrschung der Natur noch eng verklammert waren, sind vorbei.

Die Antarktis hat, weil sie weit und menschenleer war, schon seit langem als Wunschfläche imperialer Gelüste gedient. Die Nazis warfen Hakenkreuzflaggen ab und tauften den Kontinent Neuschwabenland. Heute sind solche Anstrengungen weniger skurril und ideologisch, dafür handfest und wirkungsvoller. In der Nutzung des Südpols bildet sich die Manie einer industriellen Kultur ab, die außer sich nichts gelten läßt. Um die Fortpflanzung von Pinguinen zu studieren, haben die Franzosen eine Station gebaut, die mit dem Schiff jedoch nur zwei Monate im Jahr zu erreichen ist. Sie bauen eine Landebahn und ebnen dafür die Brutplätze der Tiere ein. Man sieht Planierraupen und Pinguine, die hastig und unbeholfen vor den Maschinen fliehen. In Paris beschließt man, das Problem zu lösen, indem man die Eier der Tiere sterilisiert. Auf solche Absurditäten deutet der Film ohne Gesten der Empörung, eher lakonisch.

Um die Stille der Eiswüste hörbar zu machen, ist als Kontrastmittel urbane Unstetigkeit eingefügt: schrille Radiojingles in Sydney, vorüberhuschende Autos, Verkehrsschlangen, die nächtliche Skyline der Wolkenkratzer, Eisenbahnen und, unter anderem im hektischen Schein der Werbung und Mobilität, Menschen. McMurdo, die antarktische US-Station, ist eine Stadt mit 1.000 Einwohnern. Engstfeld wirft darauf einen scharfen, entlarvenden Blick: Plastikbecher, Plüschpinguine, Softeis. Und in AFN-Radio fordert eine kichernde Sprecherin auf, den Müll doch lieber zu sammeln. Amerika ist überall. Manchmal, nicht oft, läßt sich Engstfeld zu vordergründigen Allegorien verleiten. Ein US-Eisbrecher nähert sich und wird in einem Zoom schockhaft zum Angreifer. Solche didaktischen Dramatisierungen hätte der Film nicht nötig.

Gemächlich bahnt sich das Greenpeace-Schiff einen Weg durch das Treibeis, auch in den Bildern ist langsames Verstreichen der Zeit spürbar. Das ist als Widerstand gegen den vorschnellen Zugriff zu verstehen, den Engstfeld in der geplanten Ausbeutung der Antarktis verdichtet sieht. Dröhnend starten die US-Transporter, geräuschlos segelt eine Möwe durch die Lüfte, unterlegt vom lauten Pfeifen des Windes und einem dezent und leise hineingemischten Choral. In langen, meditativen Einstellungen zerfließt am Horizont die Grenze des Eismeers mit dem Himmel und der mild schimmernden Sonne. Das klingt, auf den Begriff gebracht, etwas platt und nach falscher Idyllenmalerei.

Doch die Kamera bewahrt Distanz: In der Totalen bleibt die Entfernung und eine Unnahbarkeit sichtbar. Die gleichförmige Bewegung des Wassers, das unübersehbare Meer von Eisschollen. Abblenden und Schwarzfilm rhythmisieren den Film. Das Verharren ist in die Ästhetik eingelassen und verhindert das Abgleiten in Naturkitsch und den touristischen Blick. So wird die Entdeckung der Langsamkeit zum Grundton des Films, so entfaltet sich eine behutsame und nicht von Thesen beschwerte Poesie der Bilder. Weil die Bilder der Antarktis nicht zitiert werden, um einen Satz zu stützen, sondern ein eigenes Gewicht haben, bleibt ihnen eine Erhabenheit und Fremdheit, die über Beweisführungen hinausreicht.

Stefan Reinecke